& begann im Jahre 1854 …
Noch stand die Habsburger-Monarchie im vollen Glanz ihrer Macht. Die Revolutionen von 1848 und 1849 waren niedergeschlagen, die äußeren Feinde besiegt. Im „Deutschen Bund“, der Vereinigung der deutschen Staaten, führte Oesterreich den Vorsitz. In der Bundesfestung Mainz lagen kaiserliche Truppen. Die Lombardei und Venetien gehörten zu Oesterreich, in Toscana und Modena regierten habsburgische Herrscher.
Die Wirtschaft des Landes begann aufzublühen. Die Zollschranken gegenüber Ungarn waren 1851 gefallen, das ganze Gebiet ein einheitliches Wirtschaftsgebiet. Am 17. Juli 1854 wurde die Semmeringbahn eröffnet, eine erstaunliche technische Leistung. Im gleichen Jahr trat das neue Gesetz über die Gymnasien und Realschulen ins Leben. An der Universität Wien eröffnete das Institut für Geschichtsforschung seine Pforten. Das ganze Reich überzog eine treffliche Verwaltung. Allerdings lastete über eben diesem Reich ein ungeheures Budget, in dem die Posten für das Heer und die Verwaltung die größten, für Unterricht und Wissenschaft die kleinsten waren. Am 24. April dieses Jahres heiratete der junge Kaiser Franz Joseph die berückend schöne und junge Prinzessin Elisabeth in Bayern. Eine große Amnestie, die der Hochzeit folgte und vielen Tausenden Gefangenen aus der Revolutionszeit die Freiheit wiedergab, machte Franz Joseph zum erstenmal populär.
Und dennoch …
Es begann im Jahre 1854 …
Im Juli 1853 waren russische Truppen in die Donaufürstentümer einmarschiert. Schutz über die orthodoxen Christen in der Türkei war der Vorwand, das Streben nach dem Besitz Konstantinopels und ein Zugang zum Mittelmeer stand dahinter. Ein Weltkrieg begann sich mit diesem Schritt Rußlands abzuzeichnen, denn die Westmächte — Frankreich und England — schienen keineswegs gewillt, Rußlands Vormarsch zu billigen. Sie traten der Türkei hilfreich zur Seite. Der Zar, eingedenk der Hilfe, die er Franz Joseph 1849 gewährte, hoffte auf dessen sicheren Beistand. Oesterreich aber hatte Interessen im Osten und Westen. Es versagte sich Rußland, es schloß sich aber auch dem Westen nicht an, so sehr dieser dazu drängte. Es versuchte dagegen zwei Dinge: den Konflikt zu lokalisieren und den Krieg durch einen Frieden zu beendigen. Beide Ziele konnten erreicht werden: Der Krieg zwischen Ost und West wurde kein Weltkrieg, er wurde auf das kleine Gebiet der Krim beschränkt. Und der Friede kam endlich 1856 zustande.
Allerdings: Ebenso wie Bismarck nach dem Berliner Kongreß nur Feinde hatte, so auch jetzt die Donaumonarchie, die es nicht verstanden hatte, ihre Dienste so teuer wie möglich zu verkaufen. Der Westen und der Osten vergaßen es ihr nicht, daß sie dem Frieden gedient hatte. Oesterreich stand völlig isoliert.
Und dann kam das Jahr 1859-
Der Krieg in Italien war von Oesterreich diplomatisch schlecht vorbereitet worden. Er wurde dazu noch militärisch schlecht geführt. Und zum Schluß noch wurde völlig übereilt der Friede geschlossen. Er kostete Oesterreich die Lombardei und im Gefolge auch die Toscana und Modena. Der Anfang vom Auszug Oesterreichs aus Italien begann. Und damit zugleich das Unglück Italiens.
linis, nennt die österreichische Verwaltung in Italien die gerechteste, die dieses Land je besaß. Pius X., von Geburt Venetianer und somit ehemaliger österreichischer Untertan, erinnerte sich noch als Papst der Wohltat dieser Administration.
Aber nicht der Verlust dieser Verwaltung war das eigentliche Unglück, das auf Magenta und Solferino folgte. Dieses lag auf einem anderen Gebiet: Seit Jahren fieberte Italien der Einigung entgegen. Die Frage war nur, wer diese Einigung herbeiführte. Die konservativen Kräfte, die gemäßigten Liberalen, die Anhänger der Kirche oder die Radikalen, die Freimaurer, die Anhänger Garibaldis, Mazzinis, Cavours? Das Jahr 1859 entschied zugunsten der letzteren. Italien fiel damit einem nationalen Chauvinismus in die Arme, der gleichzeitig antikirchlich war und der Italien zu guter Letzt auf die Blut- und Eisen-Straße Mussolinis, dieses letzten und großen Schülers Mazzinis, führte. Die Katastrophe Italiens vom Jahre 1945 ist nur mehr das Ende der Niederlage Oesterreichs von 1859.
Und dann kam das Jahr 1866.
„Die Welt zerbricht“, rief der päpstliche Kardinalstaatssekretär Antonelli aus, als er die Nachricht von der Niederlage Oesterreichs bei Königgrätz erhielt.
Eine Welt stürzte tatsächlich» zusammen: Mit dieser Niederlage ist der endgültige Aus
Selbst die größten Anhänger des Risorgimento geben heute zu, daß das Verschwinden der österreichischen Verwaltung aus Italien ein kulturelles Heruntersteigen der Nation bedeutete. Farrinacci, der Verfasser der dreibändigen „Geschichte des Faschismus“, Gegner der Monarchie und Anhänger Musso zug Oesterreichs aus Italien und Deutschland verknüpft. Die beiden großen Flügel der Habsburger-Monarchie brachen ab. Und damit die Chance, auf großem Raum als eine moderne Form des Heiligen Römischen Reiches eine übernationale Völker- und Staatengemeinschaft aufzubauen, die Europa für lange Zeit den Frieden beschert hätte.
Ebenso wie 1859 das Unglück Italiens begann, begann 1866 das Unglück des deutschen Volkes. Auch in Deutschland lag die Einigung in der Luft. 1848 war sie von den liberalen Kräften versucht worden, 1863 durch die deutschen Fürsten. Beide Male hatte Preußen diese Einigungsbestrebungen verhindert. Jetzt, nach Königgrätz, nahm es die Einigung Deutschlands selbst in die Hand. Und damit begann eben das Unglück des deutschen Volkes. Denn in dessen Gefolge geschah die Preußifizierung des deutschen Volkes, seine Enthumanisierung. „Man soll doch Preußen germanisieren und nicht Deutschland borus- sieren“, hatte selbst ein Bismarck gestöhnt. Aber eben dieser Bismarck hatte das deutsche Volk auf die „Blut- und Eisen-Straße“ geführt und diese Straße hatte zur Kapitulation des Jahres 1945 geführt, einer der größten Katastrophen des deutschen Volkes.
Die Niederlage des deutschen Volkes von 1945 ist undenkbar ohne die Niederlage Oesterreichs bei Königgrätz.
Und dann kam das Jahr 1867.
Dieses Jahr brachte den Ausgleich zwischen Ungarn und Franz Joseph, die Schaffung des sogenannten dualistischen Systems.
Oft wird die Schaffung des Dualismus, dieser „Monarchie auf Kündigung“, als das große Unglück der Habsburger-Monarchie nach 1866 bezeichnet. Dies ist nicht ganz richtig. Nach den Niederlagen von Solferino und Königgrätz hätte die Monarchie zwei Möglichkeiten gehabt, auf dem Raum der ihr noch geblieben war und den elf Nationen bewohnten — jede zu schwach, um für sich allein zu bestehen —, ein letztes übernationales Reich zu bilden: entweder als Bund der Nationen, als „Commonwealth of nations“, . oder als eine Art „Vereinigte Staaten“, innerhalb denen wieder die so vielfach ineinander verzahnten Völker völlige Gleichberechtigung hätten genießen müssen. Wahrscheinlich wäre der zweite Weg der richtige gewesen, denn geographische Räume, die eine gemeinsame Vergangenheit hatten — wie der ungarische, der böhmische, der österreichische Raum —, erzeugen ein starkes Staatsgefübl. Der ungarische Ausgleich von 1867 war, wie der ungarische Minister Kristoffy sagte, der erste Schritt zur Föderalisierung der Monarchie in einen Bund „Vereinigter Staaten und- Nationen“. Das Unglück war, daß die Monarchie bei diesem ersten Schritt stehenblieb, ja, die herrschende Schicht Ungarns alle weiteren Schritte in dieser Richtung verhinderte, wie den Ausgleich mit Böhmen im Jahre 1871, 'die Erwerbung Serbiens in den achtziger Jahren, Kroatien ferner an die „Wand spielte“, Siebenbürgen auslöschte und die Nationen im Reich der Stephanskrone schamlos unterdrückte, obwohl es ein ausgezeichnetes Nationalitätengesetz gab.
Die Jahre und Jahrzehnte der Monarchie ab 1867 sind angefüllt mit zähen, komplizierten Versuchen, den zweiten, dritten, vierten Schritt gehen zu können, der auf die Schaffung des Dualismus hätte folgen müssen, die Donaumonarchie in ein Heim zu verwandeln, in dem sich alle Völker wohl und., zu Hause fühlten, hinter dessen mütterlichen ' Schutz sie aufwachsen und gedeihen konnten. Oft schien man diesem Ziel schon sehr nahe, waren sich doch die meisten Nationen der Bedeutung der Monarchie bewußt.
„Eingekeilt zwischen den beiden größten Nationen Europas“, hatte der Rumäne Aurel Popovici geschrieben, „den Deutschen und den Russen, können die kleinen im Reiche der Habsburger lebenden Völker überhaupt nur in einem festgefügten Bund ihre Sicherheit nach außen, ihre Freiheit nach r innen behaupten.“
Mit größter Hoffnung blickte alles auf den Thronfolger Franz Ferdinand, in der Erwartung, er werde diese Umwandlung der Monarchie vollziehen.
Und dann kam das Jahr 1914.
Der Nationalismus hatte bei Solferino gesiegt, bei Königgrätz, im Jahre 1867, er siegte jetzt durch die Tat eines jungen Serben, der die tödliche Waffe gegen Franz Ferdinand erhob und ihn traf. Mit dem Röcheln des zu Tode Getroffenen begann der Todeskampf der Monarchie.
Und dann kam die große Tragödie, das Jahr 1918.
„Diese herrliche Monarchie“, wie sie Prinz Eugen von Savoyen genannt hatte, löste sich auf, die einzelnen Teile gingen ihre eigenen Wege.
„Was sollte an die Stelle Europas gesetzt werden“, hatte einst Bismarck geschrieben, „welche der österreichische Staat von Tirol bis zur Bukowina bisher ausfüllt? Neue Bildungen auf dieser Fläche könnten nur dauernd revolutionärer Art sein.“
„Die große Tragödie (des ersten Weltkrieges)“, sagt Winston Churchill in seinen Erinnerungen über den zweiten Weltkrieg, „war der vollständige Abbruch des Oester- reichisch-Ungarischen Reiches … Jahrhundertelang hatte dieser letzte Rest des Heiligen Römischen Reiches einer großen Zahl von Völkern, zum Vorteil von Handel und Sicherheit, ein gemeinsames Leben ermöglicht, und keines dieser Völker besaß in unserer Zeit die Kraft oder die Lebensenergie, um sich allein gegen den Druck eines wiederauflebenden Deutschlands oder Rußlands zu behaupten .» Die Balkanisierung Südosteuropas schritt rasch fort… Es gibt keine einzige Völkerschaft oder Provinz des habsburgischen Reiches, der das Erlangen der Unabhängigkeit nicht die Qualen gebracht hätte, wie sie von den alten Dichtern und Theologen für die Verdammten der Hölle vorgesehen sind.“
„Trennung Ungarns von Oesterreich ist Tod ohne Auferstehung für Ungarn“ hatte einst der große Ungar Franz von Deak geschrieben. Und dennoch ging Ungarn seine eigenen Wege.
„Extra Austriam non est vita“ — „Außerhalb Oesterreichs gibt es kein Leben“ hatte einst der Tscheche Kaizl gesagt. Und dennoch ging Böhmen seinen eigenen Weg.
„Denken Sie sich Oesterreich in eine Menge von Republiken und Republikchen aufgelöst“, hatte einst Palacky, der große Weise, gewarnt, „welch ein willkommener Grundbau zur russischen Universalmonarchie.“
Und dann kam das Jahr 1938.
Oesterreich wurde ausgelöscht. Obwohl einst Bismarck gewarnt hatte: „Oesterreich könnten wir weder ganz noch teilweise brauchen… Eine Verschmelzung des deutschen Oesterreich mit Preußen könnte nicht erfolgen, Wien würde als ein Zubehör von Berlin aus nicht zu regieren sein.“
Und dann kam das Jahr 1939-
Und mit diesem Jahr das Elend des Krieges.
Und dann kam endlich ein Lichtpunkt: Die Auferstehung Oesterreichs im Jahre 1945.
Und jetzt kommt das Jahr 1954.
Ein Jahrhundert ist vorbei seit 1854. Ein schweres Jahrhundert für Oesterreich. In dem von seinem mächtigen Bau ein Stück nach dem anderen abgebrochen wurde, bis selbst das ureigenste Haus für immer verschwunden schien. Eine Niederlage folgte auf die andere, die Ideen des Nationalismus in seiner chauvinistischen Form, die Ideen des krassen Egoismus schienen für immer zu triumphieren.
Und hier nun geschah das Seltsame: diese Ideen triumphierten sich zu Tode. Alle diese Völker, die sich von der österreichischen Idee abgewandt hatten, wandten sich vom Leben ab und gingen eine Straße, die zu einem tödlichen Ausgang führte. Um das Leben zu retten, mußten sie sich neuen Ideen zuwenden, Ideen, die aber eigentlich schon uralt sind. Es sind die Ideen der Vereinigung aller Völker, der Vereinigung der europäischen Staaten, der Schaffung großer Wirtschaftsräume, die Idee der guten Verwaltung, der gerechten Verwaltung, die Ideen der Toleranz, der milden Herrschaft, der Ueberwindung des nationalen Chauvinismus, des Verzichtes auf gewisse Rechte zugunsten einer Gemeinschaft. Es sind, wie Palacky sie einst formulierte, die Ideen des österreichischen Staates.
Nach einem schweren Jahrhundert, in dem Oesterreich immer „The grand loser — der große Verlierer" war, kann es Abschied nehmen von eben diesem schweren Jahrhundert, in dem Bewußtsein, der eigentliche Sieger zu sein.