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Abstimmung mit den Füßen?

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Sie stimmten schnell und spontan ab, die Einwohner der Altstadt von Jerusalem und die jüdischen Bewohner der Neustadt. Die Vereinigung war eine administrative, doch durch Jerusalems Bürger auf beiden Seiten wurde sie ganz unerwartet eine menschliche. Die Schranken waren gefallen, die Eingänge wurden zwischen der Alt- und Neustadt geöffnet, und schon zwei Stunden vorher standen auf beiden Seiten der sechs Übergänge und Tore Bürger Jerusalems, um ihren neuen Stadtteil mit eigenen Augen, mit ihren eigenen Füßen kennenzulernen.

Um zwei Uhr nachmittags waren fast alle Einwohner der Altstadt abwesend, sie beschäftigten sich mit „window-shopping“ in der Jerusalemer Neustadt, und die meisten Auto-besitzer der Altstadt — es gibt deren einige Tausend — tankten ihre Kanister voll und rollten über die alte jordanisch-israelische Grenze bis nach Jaffa und Tel Aviv. Viele wollten ihre alten „Heime“ wiedersehen, viele wollten ihre Verwandten besuchen oder einfach ihre neue Heimat kennenlernen. Israels Okkupationsmacht war selbst über diese spontane Völkerwanderung überrascht. Aber, wer einmal Bürger von Jerusalem ist, hat laut Gesetz Bewegungsfreiheit im ganzen Lande Israel. Vor drei Wochen waren sie noch Feinde und riefen Achmed Shukeiry, den Rechtsanwalt aus Akko, der an der Spitze der extremsten arabischen Flüchtlingsorganisation steht, Heilrufe zu.

Diese Zeit ist vorüber. Die extremsten Elemente flüchteten, und zurück blieben die Realisten, die friedlich ihren Geschäften nachgehen wollen, und die Altstadt von Jerusalem ist heute eine Geschäftsstadt, das beweisen die vielen Souvenirläden, Geschäfte mit orientalischem Schmuck und Holzschnitzereien. Das arabische Jerusalem nährt sich hauptsächlich von Touristik. Es besitzt 5500 Betten in erstklassigen Hotels im Gegensatz zu 1600 im jüdischen Jerusalem^

Immer wieder: Klagemauer

Der Zionsberg und die Klagemauer, der einzige Überrest des zweiten Tempels, der im Jahre 70 nach Christi zerstört wurde und sich auf den Fundamenten des ersten salomonischen Tempels befindet, sind die heiligsten Stätten der jüdischen Religion. Dieser Glaube kennt im allgemeinen keine Heiligtümer; doch der Berg, auf dem der Tempel stand, bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Während Generationen schickten fromme Juden ihre Wünsche, auf Pergamentrollen geschrieben, an Juden nach Palästina, damit diese dort, während sie an der Klagemauer beten, sie in die Mauerritzen legten. Dreimal am Tage schließen die Juden die Stadt Jerusalem und den Heiligen Tempel in ihr Gebet ein. Das Pessach-Fest (die jüdischen Ostern) beginnt am Vorabend mit einem festlichen Mahle, bei dem aus der „Hagada“ vorgelesen wird (einem Gebetbuch nur für diesen Abend). Sie erzählt den Auszug der Juden aus Ägypten. Doch der Höhepunkt des Abends kommt, wenn die ganze Familie eine sehnsüchtige Melodie singt: „Leschanah Habaah be-Jeruschalajim“ — im nächsten Jahr in Jerusalem. Dieses Gebet wiederholt der fromme Jude dreimal täglich.

' Laut jüdischer Überlieferung wurde die Klagemauer seit der Zerstörung des Tempels niemals von Juden verlassen. Immer wieder und wieder fanden sich die frommen Juden bei der Klagemauer ein, um für sich und das Schicksal ihres Voltes zu beten. Erst im Jahre 1948 än-lerte sich die Situation. Laut UNO-Beschluß, der auch im Waffenstill-itandsabkommen zwischen Jordanien md Israel inbegriffen ist, sollten die luden Israels freien Zutritt zur Klagemauer erhalten. Doch diese Klausel des Waffenstillstandsabkom-nens wurde von den Jordaniern gnoriert, und die Jerusalemer Altstadt war für die Juden tabu.

Im Jahre 1948 war die Jerusalemer Altstadt zum größten Teil, dank der jUQiscnen isevoiiicruiiig uieses owui-teiles, in jüdischen Händen. Doch dieser Stadtteil wurde von der Arabischen Legion Jordaniens erobert. Das Fallen der Altstadt stellte in den Augen der jüdischen Bevölkerung die größte Schmach des israelischen Befreiungskirieges dar.

Blutiger Kampf mit Schonung!

Als jetzt nach einer sehr schweren, drei Tage währenden Kanonade auf das neue Jerusalem beschlossen wurde, die Altstadt anzugreifen (bei dieser Kanonade gab es eine große Zahl von Toten und über 500 Verwundete), war den Kommandanten klar, daß die Altstadt nicht mit Hilfe von Luftangriffen oder Artilleriebeschießungen erobert werden dürfe. In der Altstadt befinden sich heilige Stätten dreier Religionen, viele Kirchen und Klöster, die Omar-Moschee, die Felsenmoschee und die Klagemauer. Es begann ein Kampf von Haus zu Haus, der blutig und schwer war. Eine Fallschirmspringerkompanie hatte zu Ende der ersten Kampfstunden, als sie einige Häuser erobert hatte, nur noch vier unverletzte Soldaten, mit dem Kompaniekommandanten an der Spitze, alle anderen waren tot oder schwer verwundet.

Wem gehört die Altstadt?

Die Altstadt wurde erobert — nach fast 24stündigem Nahkampf —, die heiligen Stätten blieben unversehrt, die malerischen Häuser in der Altstadt waren in tadellosem Zustand, die Zivilbevölkerung wurde kaum betroffen; und als die ersten Truppen an die Klagemauer kamen, schloß sich ihnen Israels Militär-oberralbbiner Schlomo Goren an, blies das Widderhorn, das biblische Musikinstrument der Juden, und die harten Krieger brachen in Tränen aus. Die Klagemauer war befreit

Die Bevölkerung Israels forderte fast einstimmig die Einverleibung der Altstadt. Die jahrelange Qual einer geteilten Frontstadt war das Hauptmotiv dieser Forderung. Doch die israelische Regierung wußte nicht, wie sie vom politischen Standpunkt aus dieses Problem lösen könne.

Man schickte einen geheimen Abgesandten nach Washington und holte sich die inoffizielle Bestätigung, daß die USA zwar solch eine Einverleibung offiziell rügen, doch keine Schritte dagegen unternehmen würden. Der Vatikan ließ durchblicken, daß es unter jordanischer Oberherrschaft zu vielen Meinungsverschiedenheiten in bezug auf die heiligen Stätten der Christenheit gekommen sei. Israel hingegen garantiert völlige Autonomie der Konfessionen bei der Pflege ihrer Heiligtümer in Jerusalem und Umgebung.

Der Vatikan machte den Vorschlag, Jerusalem zur internationalen Stadt zu erklären, wie es der UNO-Be-schluß yon 1947 ursprünglich auch vorgesehen hatte. Wenn dies nicht möglich sei, so forderte der Vatikan wenigstens internationale Enklaven, ähnlich den Vatikankonklaven in Rom.

Als erstes versuchte man den jordanischen, Dinar gegen das israelische Pfund einzutauschen. Die Jerusalemer Händler zögerten. Doch als dann die Tore geöffnet wurden, änderte sieh die Stimmung in Jerusalem spontan. Auch der arabische Teil wollte Frieden und Ruhe und zog Israel einem unklaren Schicksal vor. Denn man konnte sich davon' überzeugen, daß es die Israelis mit der Gleichberechtigung ernst meinten. Zwar besteht noch zwischen sieben Uhr abends und vier Uhr morgens das Ausgehverbot in der Jerusalemer Altstadt, doch auch dieses soll in den nächsten Tagen aufgehaben werden. Die Flaute in den Geschäften der Altstadt war vorbei, Israelis kaufen Souvenirs und kauften innerhalb von 48 Stunden die etwas billigeren Läden der Altstadt leer. Das alte und das neue Jerusalem erwarten mit Sehnsucht die Touristen.

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