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Achtung! Atom!

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Die Illusion von der Welt- und Menschenbeglückung durch den Fortschritt ist an der Wirklichkeit des Atomzeitalters gescheitert. Wir wissen heute ganz genau, daß der Fortschritt von Wissenschaft, Technik, Automation nicht das Paradies bewirkt, und daß unsere Genußsucht auf Kosten der Gesundheit und des Lebens aller zukünftigen Generationen betrieben wird.

Wir wissen, daß der durch statistische Theorie ermfttelten,,erhöhten Lebenserwartung;” ein ständig zunehmendes Sterben der Männer „im besten Lebensalter” entspricht, ein bis,in das früheste Kindesalter vorverlegtes chronisches Leiden der Seele wie des Körpers. Wir wissen, daß die Kinder im „gehobenen Lebensstandard” weder physisch noch intellektuell mit den Kindern „zurückgebliebener Kulturen” (im Doppelsinn dieses Wortes) konkurrieren können, daß mit der ständig zunehmenden Körpergröße auch Neurotik, Psychopathie und Delinquenz in erschreckender Weise zunimmt.

Wir wissen, daß je mehr technisch-wissenschaftlich verpantschte Lebensmittel im Interesse der Wirtschaft auf den Markt gebracht werden, wir um so mehr Vitamine aus der Apotheke essen müssen, um „ernährt” zu sein. Wir wissen, daß solche „lebensgefährliche Lebensmittel” uns bis zur Toleranzgrenze der Allergie vergiften und wir dann mitten im Ueberfluß auf immer drastischere Diät- und Hungerkuren versetzt werden müssen, gegen welche Kriegsernährung fast schon Völlerei war. Und dies alles lassen wir über uns ergehen, bloß um der „erhöhten Lebenserwartung” zu genügen, verkrebst und mißmutig lebend, um dem Tod als dem Feind der antichristlichen Welt aus dem Wege zu gehen.

Wir wissen, daß die antibiotische Vergiftung des Bodens durch Insektenpulver, künstliche Düngung und ähnliches mehr auch noch jene Nahrungsmittel vergiftet, die wir im Rohzustand genießen, bis zum Vorhandensein von DDT in der Muttermilch. Wir wissen, daß der gewinnsüchtige Raubbau, die Verschlackung durch Industrieabfall und die Verschmutzung des Wassers zum ständigen Absinken des Grundwasserspiegels führt, und wir erleben gerade jetzt die erschütternde Katastrophe, durch welche in 14 Staaten von Nordamerika weite Bodenflächen, welche noch vor wenigen Jahren Kornkammern und fettes Weideland waren, vollkommen zur Wüste wurden, daß heute weder Pflanzen. Tiere noch Menschen darauf eine Existenzmöglichkeit finden.

Vor allem aber wissen wir heute, daß die radioaktive Verseuchung von Luft, Wasser und Erde und dadurch die genetische Degeneration und das biologische Aussterben der Pflanzen, Tiere und Menschen droht. Wir wissen, daß dabei die radioaktiven Abfallsprodukte der Atomindustrie ebenso gefährlich sind wie die Explosionen von Atombomben zum Test oder im Kampf. Aber so, wie viele brave deutsche Bürger nicht wissen wollten, was an Terrorakten um sie herum geschah, wie sie dem, was sie hörten, keinen Glauben schenken wollten, so wollen heute die meisten westlichen Demokraten nichts davon wissen, daß die Hebung unseres Lebensstandards nur auf Kosten der Verelendung unserer Kinder möglich ist, daß der Fortschritt, auf den wir so stolz sind, die ganze Welt in ein einziges „Vernichtungslager” verwandeln wird. Weil wir das alles wissen, aber nicht anerkennen wollen, weil wir durch diese bewußte Verdrängung ständig gegen besseres Wissen und Gewissen handeln, darum wachsen das Unbehagen, die Angstneurosen und die Verzweiflung.

Nun ist aber in den letzten Wochen eine Nachricht durchgekommen, die uns wie eine „Schocktherapie” zur Besinnung bringen müßte. Als das Unbehagen über die Unmenschlichkeit der Atombombe nach Beendigung des Krieges die Gemüter beunruhigte, wurde bei der Konferenz von San Franzisko — damals vielleicht noch im guten Glauben — das Problem theoretisch scheinbar dadurch gelöst, daß man die Unmenschlichkeit des Atomkrieges zugab, aber an der Nützlichkeit und Notwendigkeit der Atomindustrie festhielt.

Beides wurde im Westen so lange als Geheimwissenschaft betrieben, bis die russische Konkurrenzfähigkeit dies sinnlos erscheinen ließ. Das Monopol blieb, aber das Publikum erhielt Informationen, welche das ursprüngliche Handeln im guten Glauben zu einem Handeln wider besseres Wissen und Gewissen machte. Denn durch den „Atoms-tor-peace-Pian” sollte die Atomwirtschaft offen gefördert werden, gleichzeitig die Atomrüstungen eingeschränkt, und zur Vermehrung der Widersprüche, geheimgehalten und kontrolliert werden. Daß dies alles unmöglich sei, wußten die Beteiligten, und mutige Artikel in der Tagespresse klärten das Publikum immer mehr auf.

In der Wahlkampagne wurde im Herbst die Gefahr der atomischen Verseuchung von der demokratischen Opposition als Politikum aufgebracht, ohne daß dabei der entscheidende Schritt gemacht wurde mit dem Hinweis, daß die Gefahr durch die Abfälle der Atomindustrie zwar nicht so akut, aber auf die Dauer genau so schrecklich ist. Wissenschaftler, Techniker und Industrielle sind sich vollkommen klar, daß es ihnen bisher nicht gelungen ist, den mörderischen radioaktiven Abfall „aus der Welt zu schaffen”, und daß dieser, beim weiteren weiten- weiten Ausbau der Atomindustrie, die Gefahr der Verseuchung ständig vergrößert und näherrückt. Man hofft zwar, diese Abfälle einmal in den Weltraum verschießen oder in Meeresuntiefen versenken zu können, aber man weiß, daß die jetzigen Ablagerungsmethoden die Atompest früher oder später hervorrufen und damit die Ausrottung alles Lebens auf Erden bewirken wird.

In den USA ist es nunmehr zum Kampf zwischen Staatsmonopol und Privatindustrie gekommen. Wie die Opposition behauptet, hatte die Administration bisher gar kein Mandat, das Atomgeschäft zu betreiben. Nur unter dem Siegel der Geheimwissenschaft konnten jene Unsummen an Steuergeldern verschwendet werden, die derzeit die Ablagerung der Abfallsprodukte verschlingen. Nur der Wohlfahrtsstaat fühlt sich versicherungstechnisch „nicht verantwortlich” für etwaige daraus entstehende Schäden an Leib, Leben und Besitz.

Nun hat aber, vor allem in England, die Privatindustrie das Atomgeschäft in die Hand genommen und dabei aus ökonomischer und juridischer Logik das „Märchen von San Franzisko” zerstört. Wie die „New York Times” vom 17. Februar 1957 (Section IV) berichtete, bauen die Engländer bereits betriebsfähige „zwiefache Reaktoren”, welche gleichzeitig elektrische Energie für die Industrie und Plutonium für die Rüstungsindustrie liefern. Das ist selbstverständlich die einzige logische und praktische Lösung der Frage, denn hierbei werden die radioaktiven Abfälle „ihrer Natur gemäß.” verwertet: zum Töten. Mit der Ablieferung an die Rüstungsindustrie macht die Privatwirtschaft nicht nur ein doppeltes Geschäft, sondern sie wird auch die für sie untragbaren Lasten und die versicherungstechnische Verantwortung für die Ablagerung dieser gefährlichen Materialien los.

Kein Wunder, daß sich die amerikanische Privatwirtschaft nun fürchtet, nicht mehr konkurrenzfähig zu sein, denn die „Times” berichtet, daß sich Japan bereits von den Zukunftsversprechungen der amerikanischen Monopolwirtschaft abwendet und sich für den britischen ,,zwiefachen Reaktor” interessiert. Es sei zu befürchten, Euratom könne dasselbe tun.

Gerade in Wien, als dem Sitz der Atomkommission, könnte deshalb die Rückkehr zum Realismus nicht nur in Europa, sondern die ganze Welt von den schauerlichen Folgen des westlichen Illusionismus befreien. Der „zwiefache Reaktor” beweist, daß es in Wirklichkeit keine von der Kriegsindustrie trennbare Atomwirtschaft gibt, daß Atomindustrie immer — ob bewußt und gewollt oder weder bewußt noch gewollt — zur Ausrottung alles Lebens auf Erden führt.

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