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Adenauer vor Sonnenuntergang

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Adenauers kürzlicher Besuch in Paris glich etwas einer melancholischen Reise in die Vergangenheit. Ein alter, großer Mann machte sich auf den Weg, um seinen Freund und Gegenspieler de Gaulle noch einmal das Vermächtnis der eigenen Politik nahezubringen. Der Anlaß zu dieser Reise war einigermaßen nebensächlich. Die französische Ausgabe der Erinnerungen Adenauers wurde herausgebracht, und der Verlag wollte den Autor dabei an Ort und Stelle haben. Adenauer aber gedachte die Gelegenheit zu nutzen, um noch einmal die Würfel der Weltpolitik zu werfen, wie er dies seit 1949 oft und oft getan hat. De Gaulle hat ihn mit der großen Liebenswürdigkeit empfangen, deren er fähig ist. Aber niemand dürfte deutlicher als Adenauer empfunden haben, daß es die Stunde vor Sonnenuntergang war, und daß kein Gespräch entstand, durch das Schalthebel der Weltpolitik in Bewegung gerieten.

Wachablöse

Schon um die Zeit, als Adenauer das Palais Schaumburg verließ — im Herbst 1963 —, kündigte sich der Wandel am Firmament der Weltpolitik an, der nun in vollem Gange ist. Adenauer hat sich nicht deshalb diesen Zeitpunkt für seinen Abtritt gewählt. Aber sein Nachfolger Erhard muß nun die volle Last der Probleme tragen, die sich aus den Wandlungen der Weltpolitik ergeben. Erhard hat dies auch erkannt und deshalb, als er sein Amt von Adenauer übernahm, gesagt, eine Ära gehe zu Ende, eine Äußerung, die er unlängst durch die Bemerkung ergänzt hat, die Nachkriegszeit sei vorüber: Adenauer macht nun seinem Nachfolger unverhüllt den Vorwurf, er werde der Dinge nicht Herr. Er hat Erhard immer für einen Mann ohne ausgebildeten politischen Instinkt und ohne jede Robustheit gehalten, die er gleichermaßen für erforderlich hält, um einen Staat durch die Wirren der Zeit zu lenken.

Während seiner Amtszeit und danach ist an Adenauer viel Kritik geübt worden. Die Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Erinnerungen, der die Zeit von 1949 bis 1953 umfaßt, hat dieser Kritik neuen Anlaß gegeben. Gleichwohl ist kein Zweifel, daß die Popularität des alten Mannes heute ungebrochen ist. Dies hat sich nicht nur anläßlich seines 90. Geburtstages am Anfang des Jahres gezeigt. Es zeigte sich auch am Bucherfolg seiner Erinnerungen, die sofort und für lange Zeit an der Spitze der Bestsellerliste standen. Es zeigte sich nicht zuletzt an dem Erfolg einer humoristischen Schrift von „Karlchen Schmitz”, in der ein Karikaturist nicht in Zeichnungen, sondern in Schulaufsätzen das Phänomen Adenauer anging. So haben die Leute „den Alten” immer gesehen: als einen Mann, dessen Schlagfertigkeit und dessen rheinischem Humor kaum etwas gewachsen war, weder Probleme, noch Personen. In der Tat konnte der Beobachter zuweilen den Eindruck haben, als spiele Adenauer mit allem, als gehe ihm nichts unter die Haut. Dabei war dies wohl nur Ausfluß der Leichtigkeit, mit der er verbarg, wie gründlich und ernst und mit welcher Genauigkeit eines erfahrenen hohen Verwaltungsbeamten er an die Probleme und an die Menschen heranging.

Keine Freiheit der Wahl

Adenauers großes Verdienst um Deutschland besteht darin, daß er das tiefste, das entscheidende Problem der Bundesrepublik von der ersten Stunde an erkannte und konsequent dessen Lösung betrieb. Die Bundesrepublik besaß nicht die Freiheit der Wahl zwischen Ost oder West oder der Neutralität. Sie mußte für den Westen optieren. Die westlichen Besatzungsmächte hätten sie sonst nicht entstehen lassen und wären ihr unverzüglich in den Arm gefallen, wenn sie sich hätte auf andere Wege begeben wollen. So schuf Adenauer die politische Plattform, auf der sich das Wirtschaftswunder aufbauen konnte. Er führte Westdeutschland ohne Vorbehalt und ohne Hintergedanken in das Konzert der westlichen Welt hinein und war ein zuverlässiger Bundesgenosse.

Dabei kam ihm der weltpolitische Wogengang entgegen. Der Kalte Krieg, der schon bei Einstellung der Feindseligkeiten im Jahr 1945 seine Schatten vorausgeworfen hatte, erleichterte dem Staatsmann an der Spitze Westdeutschlands die Eingliederung in die freie Welt, denn die westlichen Alliierten glaubten Westdeutschland auch um ihrer eigenen Sicherheit willen nicht preisgeben zu können. Adenauer hat diese Trumpfkarte kühl und überlegen ausgespielt. Seine stärkste, auch von den westlichen Alliierten honorierte Tugend, war die Stetigkeit, die er der Bonner Politik eingab.

Sein größter Erfolg war die Freundschaft, die er rasch zu dem amerikanischen Außenminister Dulles herstellte. Zu dessen Zeiten erfolgte kein amerikanischer Schritt in der deutschen Frage ohne den deutschen Bundeskanzler. Um so leichter war es Adenauer möglich, im Jahre 1955 vor der Genfer Gipfelkonferenz das Junktim zwischen Abrüstung und deutscher Wiedervereinigung zu erreichen, das seit einigen Jahren auch von den USA stillschweigend aufgegeben und in einer gemeinsamen Erklärung Johnsons und Erhards im Jahre 1964 auch offiziell fallengelassen worden ist.

Adenauer hat nie von dem Gedanken abgelassen, daß Sowjetrußland mit den kommunistischen Staaten eine ständige Bedrohung Europas darstelle. Deshalb hat er die europäische Integration betrieben, und deshalb war er ein Vorkämpfer der Integration in der Atlantischen Allianz. Schon vor Jahren haben ihn darum seine Kritiker den „letzten kalten Krieger” genannt. Sein ständiger Alpdruck war, die Westmächte könnten in ihrem Mißtrauen gegenüber Moskau nachlassen und daher zu einer Verständigung mit dem Kreml über den Kopf Deutschlands hinweg bereit sein, das heißt, den territorialen status quo und damit die Spaltung Deutschlands zementieren helfen.

Heute muß sich Adenauer von seinen Kritikern Vorhalten lassen, er habe eine Politik der Stärke betrieben, sei damit aber gescheitert. Bei diesen Vorwürfen wird freilich nicht in Rechnung gesetzt, daß der Regierungschef Adenauer niemals etwas anderes tun konnte als die Zuversicht zu stärken, die Wiedervereinigung werde eines Tages Wirklichkeit werden. Hätte er dies nicht getan, hätte er gar das Gegenteil geäußert, er wäre nicht lange an der Spitze der Bundesregierung geblieben.

Die Wende in Washington

Schon zu Adenauers Amtszeit machte sich die Wende in der amerikanischen Politik bemerkbar, die dem Fernen Osten den Vorrang gegenüber Europa gab. Adenauer gewann nie ein so enges Verhältnis zu Kennedy, daß es ihm gelungen wäre, den jungen und stürmischen amerikanischen Präsidenten in eine andere Bahn zu lenken. Ob Adenauer fähig gewesen wäre, die Wende aufzuhalten, die de Gaulle in Europa und in der Weltpolitik heraufzuführen versucht, läßt sich schwer beurteilen. Adenauer hat kein Konzept hierfür vorgelegt. Er hat aber auch nicht die Gelegenheit gehabt, durch rechtzeitiges, mit aller Autorität eines Regierungschefs ausgestattetes Eingreifen zu beweisen, daß er auch als Gegenspieler dem General ebenbürtig war. Seine Anhänger glauben, daß er beizeiten die neuen Entwicklungen hätte heraufkommen sehen und daß er genügend Einfalls- und Durchschlagskraft aufgebracht hätte, um sich schon in den Anfängen zu wehren und die deutschen Interessen zur Geltung zu bringen.

Das „verpaßte Ziel”

Diese widersprüchliche Beurteilung gilt auch in Bezug auf den deutsch-französischen Vertrag. Tatsache ist, daß de Gaulle, unmittelbar bevor Adenauer zur Unterzeichnung des Vertrages in Paris erschien, die EWG-Tür vor England zuschlug. Möglich, daß Adenauer persönlich damals auch diesen Schritt gebilligt hätte —, unter dem Druck der deutschen Opposition, auch aus den Reihen der CDU, hätte er ihn indessen nicht gutheißen können. Tatsache ist anderseits, daß Adenauer den General durch den Vertrag ebenso wie der General die Bundes republik hindern wollte, Fäden nach Moskau zu spinnen. ‘Heute kann Adenauer sagen, daß dieses Ziel der deutschen Politik unter den Händen zerronnen sei, weil sie den deutsch- französischen Konsultationsvertrag nicht zu einem wirksamen Instrument in ihren Händen gemacht habe.

Ohne Schüler und Nachfolger

Adenauer — der sich im übrigen ungern „Altbundeskanzler” nennen hört — zeigt sich daher die außenpolitische Zukunft der Bundesrepublik düster verhangen. Das Gedankengebäude, dem er mehr als ein Menschenalter nachgehangen und das er dann, oftmals mit schonungsloser Pragmatik und auch um Aus- und Umwege nicht verlegen, zu verwirklichen sich bemüht hatte, ist in seinen Augen mehr oder weniger seiner Grundlagen beraubt. Seine Warnungen und Mahnungen treffen heute auch bei manchen auf taube Ohren, die sie früher ohne weiteres zu ihren eigenen gemacht hätten.

Das gilt insbesondere für Gerhard Schröder, den Adenauer jahrelang, so weit er dessen überhaupt fähig ist, als seinen politischen Lieblingssohn behandelt hat, und der nun entgegen dem Rat des Alten auf die angelsächsische Karte setzt. Adenauer hat seine Vorbehalte gegenüber Barzel, er hat sie gegenüber Strauss. Er sieht niemanden, bei dem er das Staatsschilf in sicheren Händen glaubt.

Dabei ist es nicht richtig, daß er nie an einen Nachfolger gedacht habe. Er hatte mehrere in Aussicht genommen. Aber Hermann Ehlers, der protestantische Bundestagspräsident, starb viel zu früh. Robert Tillmans, dessen Nachfolger als Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU, starb kurz darnach. Franz Etzel versagte sich im entscheidenden Augenblick, als er aufgerufen wurde, gegen Erhard zu kandidieren, angeschlagen durch Krankheit und einen tragischen Schicksalsschlag in der Familie. Heinrich Krone war dann ebenfalls nicht bereit zur Kampfabstimmung gegen Erhard und hätte sich wohl auch nicht durchgesetzt.

Ein ähnliches Bild in der CDU. Adenauer hat für einen Nachfolger sorgen wollen. Aber mit Dufhues kam er nicht zurecht, und Erhard hält er auch in diesem Fall nicht für den geeigneten Mann. Er hätte gern Lücke an der Spitze gesehen, aber Lücke will sich auf sein Amt als Bundesinnenminister konzentrieren. So verfolgt Adenauer auch die Wachablösung in seiner Partei nicht ohne Skepsis, um nicht zu sagen Pessimismus. Er wird auch nicht verhindern können, daß manch einer die Schuld daran ihm selbst zuschreibt.

Vorwürfe und Kritik

Dies ist überhaupt einer der großen Vorwürfe seiner Kritiker und Gegner: er habe innerpolitisch kein Klima geschaffen, er habe das Volk nicht zur Demokratie erzogen, er habe autoritär regiert, zu viele einsame Entschlüsse gefaßt, er hinter- lasse das Volk in einem Zustand, in dem es für die Aufgaben der Zukunft nicht ausgereift sei.

Aber diese Kritik übergeht einige Tatsachen. In vier Wahlen hat die Bevölkerung der Bundesrepublik zu Adenauer immer wieder „Ja” gesagt, einmal mit absoluter Mehrheit. Seine Politik hat er oft gegen schwere Widerstände, zum Teil aus den eigenen Reihen durchkämpfen müssen, und nicht selten ist er dabei unterlegen. Im übrigen war er gezwungen, seine Kraft auf einige Hauptaufgaben zu konzentrieren. Er mußte manches vernachlässigen, was aus der Sicht der Zeit und ihrer Notwendigkeiten als zweitrangig erschien.

So golden die Sonne auch glänzt…

Im biblischen Alter von 74 Jahren hat er sein geschichtliches Lebenswerk begonnen. Mit 90 Jahren begibt er sich als Parteivorsitzender der CDU zur letzten Machtposition, die ihm geblieben war. Der Bundestagsabgeordnete Adenauer wird auch weiterhin sein Wort zu den Geschehnissen des Tages sagen, und die Autorität einer einzigartigen historischen Leistung wird auch dann noch hinter ihm stehen. Aber es sind die Stunden vor Sonnenuntergang — so golden sie noch manchmal aufglänzen mögen.

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