6553196-1948_07_04.jpg
Digital In Arbeit

Agonie einer Weltstadt

Werbung
Werbung
Werbung

Der Berliner Besucher der österreichischen Hauptstadt wird immer wieder zu Vergleichen zwischen dem augenblicklichen Zustand von Wien und Berlin gedrängt. Neidlos verzeichnet er — wenn auch begleitet von einer gewissen Melancholie —, daß er bei seinem Gang durch Wien im pulsierenden Leben dieser immer noch trotz allen Verlusten schönen Stadt, im wiedergefundenen Optimismus seiner regsamen Bewohner, die in Kleidung und Ernährung vorteilhaft sich von den Berlinern unterscheiden, die „Trümmerkrankheit“ des Berliners überwinden kann. In hohlen Gewölben und zerstörten Häusern klingt jedes Lachen wie Hohn. Berlin ist noch heute eine Stadt ohne Freude. Zwischen seinen Trümmern ist auch die trockene Witzigkeit des Berliners verlorengegangen. Wo und wie leben eigentlidi die mehr als drei Millionen Menschen, die die frühere Reichshauptstadt heute wieder in ihren Ruinen beherbergt? Nur wenn man die Wiener Wohnungsnot vervielfadit, die Menschen um ein Mehrfaches stärker zusammendrängt und alle die daraus erwachsenden Schwierigkeiten potenziert, so wird man vielleicht eine Vorstellung von der Lage der Bevölkerung in der einstigen stolzen Reichshauptstadt machen können. Etwa 3000 Ehescheidungen im Monat, ein geradezu seuchenhaftes Anwadisen der Geschlechtskrankheiten, gegen das eine das ganze Stadtbild und besonders die Verkehrseinrichtungen beherrschende Bekämpfungspropaganda vorzugehen versucht, die entsetzlichen Ziffern der Jugendkriminalität, die zu einer derartigen Überfüllung der Gefängnisse geführt hat, daß man jugendliche Verbrecher nach der Inhaftierung wieder nach Hause schicken mußte, geben eine unmißverständlidie Einsicht in den alarmierenden Zustand dieser Stadt.

Eine Atmosphäre tiefer Depression, die Angst vor der ungewissen Zukunft liegt über der Stadt, ähnlich jener Stimmung, die Jean Paul Sartre, der französische .Philosoph des Existentialismus, aus seinen Erlebnissen während der deutschen Besetzung Frankreichs in sich aufnahm, er schildert sie in dem Bühnenstück „Les Mouches“, in dem er das schuldbeladene antike Argos von den Erinnyen heimsuchen läßt. Bezeidmend ist es, daß die Aufführung dieses Dramas zu einer Theatersensation wurde, wie sie seit Jahren nidit mehr in Berlin zu verzeichnen war.

Die politischen Gegensätze haben in der Berliner Öffentlichkeit zu einer Schärfe der Auseinandersetzungen geführt, wie sie kaum noch überboten werden kann. Auf der einen Seite steht die Sozialistische Einheitspartei (SED), die seit der Zwangsvereinigung im Frühjahr 1946, gebildet aus den Kommunisten und einem Teil der linken Führer der Sozia!demokratisdien Partei, 20 Prozent der Wähler erfassen konnte. Sie befürwortet die Politik der russischen Besatzungsmadit. Die Sozialdemokraten (50 Prozent Wähler), die christlidien Demokraten (20 Prozent) und die Liberalen (10 Prozent) bilden zwar keinen offiziellen Blöde der Gegenseite, aber in der Praxis der parlamentarischen Zusammenarbeit des Rathauses tritt häufig eine enge Verbindung zutage. Die Sozialdemokratische Partei ist in den fünf Ländern der russischen Besatzungszone nicht zugelassen. CDU und LDP mußten sich in diesen Ländern einer Blockpolitik mit der SED fügen, die nach harten Auseinandersetzungen im Schoße dieser beiden Parteien zu einer Abtrennung ihrer Berliner Bezirksgruppen geführt hat. Der Kampf Jakob Kaisers, des tapferen CDU-Vorsitzenden, hat kürzlich zur Loslösung der Berliner CDU von der Gesamtpartei der Ostzone Anlaß gegeben.

Das wichtigste Problem, das heute alle Berliner beschäftigt und sogar zeitweise die außerordentlich ernste Ernährungslage überschattet, ist durch die Alternative bezeichnet: Verbleib oder Abzug der westlichen alliierten Truppen? Nach den Potsdamer Beschlüssen sollte Berlin die Hauptstadt eines wieder vereinigten Deutschlands bleiben. Die Bildung der Bizone im Westen mit der geplanten Zentrale in Frankfurt am Main gab den Anlaß zu russischen Kommentaren, es seien damit die Potsdamer Beschlüsse durchbrochen und Berlin faktisch Hauptstadt der Ostzone geworden. Verantwortliche Stellen der westlichen Alliierten weisen jedoch entschieden alle Absichten, Berlin aufzugeben, zurück.

Etwa zwei Millionen Berliner leben von den Lebensmitteltransporten, die aus dem Westen kommen. Die Versorgung der Bevölkerung mit etwa 1400 Kalorien durchschnittlich, führt eine Unterernährung herbei, bei der die seuchenhaft auftretende Tuberkulose riesigen Umfang annimmt. Die Schwarzmarktpreise sind für die arbeitenden Menschen unbezahlbar. Noch immer verdienen Fabrikarbeiter 30 bis 40 Mark in der Woche. Brot kostet im Schleich etwa 40 Mark pro Kilogramm, Butter 500 bis 600 Mark, Zucker 150 bis 180 Mark, Kartoffeln 5 bis 6 Mark pro Kilogramm.

Der eiserne Vorhang ist in der letzten Zeit noch undurchdringlicher geworden. Innerhalb Berlins, das in Sektoren eingeteilt ist, gibt es zwar keine Grenzen, aber von einer Bewegungsfreiheit zu sprechen, wäre vermessen. Der mit überwiegender Mehrheit gewählte Oberbürgermeister der Stadt, der Sozialdemokrat Reuter, ist infolge des Vetos einer Besatzungsmacht bisher nicht bestätigt, mehrere durch parlamentarische Mehrheiten gewählte Stadträte wurden abgelehnt, einige Bezirksbürgermeister durch die Besatzungsmacht entlassen, trotzdem sie durch die überwiegende Mehrheit der Wähler auf ihren Posten gestellt worden waren. Es kann niemand überraschen, daß die Bevölkerung auf die Erfahrungen einer solchen „Demokratie“ sehr skeptisch reagiert. Die Parteien verlieren ständig Mitglieder, die sich zum Teil aus Angst vor der Zukunft zurückziehen.

Die Bildung der Bizone rückt eine Teilung Deutschlands in den Bereich der Möglichkeit; man ist besorgt, daß eine Ostregierung sich aus der Zentralverwaltung der sowjetisch besetzten Länder mit dem Sitz in Berlin gestalten und Berlin in ihren Bereich ziehen könnte. Die Folgen für ein derart geteiltes Deutschland sind noch unabsehbar. Diese Entwicklung würde gegen den Willen des überwiegenden Teiles des deutschen Volkes gestaltet und wahrscheinlich ähnliche Konsequenzen nach sich ziehen, wie sie sich in den von der Hitlerherrschaft vergewaltigten Ländern schließlich ergaben.

„Es ist hoffnungslos!“ — sagt der Mann von der Straße, wenn man ihn über die politische Entwicklung befragt. Das sagt der Berliner, dessen emsige Regsamkeit bekannt ist und der durchaus nicht leicht die

Flinte ins Korn wirft. Er weist auf das

Schicksal der weltberühmten Maschinenfabrik Borsig hin, die nach Beendigung des Krieges demontiert wurde. Die noch restlichen beschädigten und verrosteten Maschinen hat die Arbeiterschaft dann wieder in Gang gesetzt und die Arbeit wieder aufgenommen. Zwei Jahre nach dem Kriege hat eine andere Besatzungsmacht die Fabrik, das Aufbauwerk der Arbeiter, erneut auf die Demontageliste gesetzt.

„Es ist hoffnungslos!“ — das war auch die Meinung der Berliner parlamentarischen Mehrheit. Auf die Wahl am 20. Oktober 1946 wurde als Anerkennung für den demokratischen Erfolg Selbstverwaltung von den Alliierten zugesichert. Aber die Beschlüsse des Rathauses benötigen die Zustimmung der vier Besatzungsmächte, von denen jede ein Vetorecht hat. Viele Arbeit des Stadtparlaments war bisher nutzlos gewesen, weil die Alliierten unter sich keine Einigung erzielen konnten. Die politischen Fraktionen beschlossen also im vergangenen Jahre — außer der SED —, die Parlamentsarbeit einzustellen und nur noch die dringendsten Geschäfte zu erledigen. Es wurde ernsthaft erwogen, alle politischen Beamten zurückzuziehen und eine weitere Arbeit der Volksvertreter, um sie nicht zu einem Hohn auf demokratische Grundsätze werden zu lassen, abzulehnen. Nur die Tatsache, daß man damit der SED freien Lauf gegeben hätte, veranlaßte die anderen politischen Parteien zum Abstand von dem Beschluß.

„Es ist hoffnungslos“ — so sagt schließlich auch die Jugend, die das Werben der politischen Parteien skeptisch ablehnt und — statt in mühseliger Arbeit einen Wodien- lohn von 30 Mark zu verdienen — auf dem Schwarzen Markt leichteren Gewinn sucht. Hoffnungslosigkeit spricht aus den Augen der unterernährten Kinder, von denen im Winter mehr als 100.000 die Schule nicht besuchen können, weil ihre Schuhe völlig zerrissen sind.

Um 10 Uhr abends ist in der einstmaligen Weltstadt Berlin Polizeistunde. Aber gegen 9 Uhr sieht man kaum noch jemanden auf der Straße. Um die gleiche Zeit hört der Verkehr der tagsüber grauenvoll überfüllten Bahnen auf. Die Agonie des Tages geht in einen bleiernen Schlaf der Stadt über, die einmal wegen ihrer Regsamkeit, Arbeitsenergie und ihrer Lebenslust Besucher aus der ganzen Welt an sich zog. Die Lebensgeister sind nicht erloschen, aber die Fesseln der physischen Kräfte schnüren den Willen ab. Mit Walzermelodien aus dem Berliner Rundfunk wird man sie kaum lösen können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung