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Algeriens Trotzki: Boudiaf

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Diej je nach Geschmack als PRS-Parteiler, Syndikalisten oder Ouvrieristen bezeichneten Linksabweichler hatten vor der Unabhängigkeitserklärung Algeriens im Inland so wenig Stützpunkte wie etwa die von Frankreich geförderte sozialdemokratisch-konservative Mischgruppe der als GPRA bekannt gewordenen algerischen Exilregierung mit Ben Khedda, Bei Kassem Krim und Bousouf. Schon gegen sie hatten die im „Hauptquartier West“ der algerischen Aufständischenarmee in den Außenbezirken des marokkanischen Grenzstädtchens Oujda sitzenden bäuerlichen Militärs um den Obersten Boumedienne die besseren Aussichten, das Heft in ihre Hand zu bekommen. Ein im Kommandoeinsatz versorgtes Netz „bou-mediennistischer“ Zellen überzog den ganzen Westen und Süden, während die Hauptorgane der Syndikalisten im Ausland harrten, vorweg eine Frankreichs gesamte algerische Arbeiterschaft umfassende und daher reiche gewerkschaftliche Mutterorganisation, „Amicale Generale des Travailleurs Algeriens“ (AGTA), und deren politisches Pendant, die „Föderation de France du FLN“, kurz Föderation genannt. Von beiden finanziert und dirigiert war die für den späteren Inlandseinsatz vorgesehene „Union Generale des Travailleurs Algeriens“ (UGTA) vorwiegend damit beschäftigt, rückenstärkende Auslandskontakte zu pflegen, die von den französischen christlichen Gewerkschaften über den amerikanisch beeinflußten Internationalen Gewerkschafstbund (IBFG), dem westdeutschen DGB bis zum kommunistischen Weltgewerkschaftsbund und damit dem ostdeutschen FDGB reichten. Es war natürlich, daß sich die „ouvrie-ristische“ UGTA zunächst mit Ben Khedda und dessen Konservativen der GPRA verband, die durch das berühmte Einmarschverbot für Boume-diennes Armee und den Auflösungsbefehl für sein Hauptquartier versuchte, sich selbst Halt im Lande zu schaffen. Wo dies gelang, wie in Groß-Algier, Nord-Constantinois und in der Kabylei, setzte sich auch die UGTA fest. Als Ben Khedda stürzte, suchte die UGTA bei den vorübergehend in Algier einmarschierenden Anarchisten und Föderalisten, den sogenannten Wilaja-Truppen, Rückhalt. Je mehr die „Wilajisten“ jedoch dem Machtzuwachs der Männer um Ben Bella weichen mußten, um so mehr fiel die UGTA zurück auf ihre ausländischen Freundschaftsverbindungen, sei es zu den „amerikanischen“ oder kommunistischen Gewerkschaftsbünden, vor allem aber auf ihre Abhängigkeit von den „ouvrieristischen“ Exilorganen in Frankreich, der AGTA, der Föderation und schließlich der PRS.

Ihnen hatte sich inzwischen der seinerzeit mit Ben Bella zusammen gekidnappte, mit diesem wieder freigelassene, jedoch von jeher des „Links-abweichlertums“ verdächtige und im Laufe der Sommerkrise erneut nach Europa geflohene Boudiaf als ideologischer wie strategischer Chef vorangestellt, nachdem der opportunistische Kabylen-Politiker Krim darin gescheitert war, die Wilajisten gegen Ben Bella auszuspielen. Während Krim vorläufig ausgespielt hat, nimmt Boudiaf im heutigen Algerien etwa die Stellung ein, die der exilierte Trotzki dem stalinistischen Rußland gegenüber hatte. In algerischen Regierungskreisen wird sogar versichert, daß er nicht nur die äußerliche Popanzrolle mit Trotzki gemein habe, sondern auch seine „ouvrieristische Ideologie auf Trotzkis Mist“ gewachsen sei. So wenig wie Trotzki läßt Boudiaf es freilich auf einen offenen Bürgerkrieg ankommen, für den sich die ÜGTA-Gewerkschaf-ter als Boudiafs letztes legale Kampfzellen im Inlande schon vor der Gleichschaltung zu schwach fühlten, sondern versucht — wie die Trotzkisten in den zwanziger und dreißig!!-Jahren —, diese kostbaren Zellen über den üblichen nachrevolutionären Prozeß von Spaltungen, Kompromissen, ia selbst über die Gleichschaltung unter geschickter Ausnutzung eventueller Risse in Ben Bellas Bauernblock hin-wegzuretten. Tatsächlich schien nicht nur die UGTA-Führung, sondern auch die weniger „bäuerlichen“ in Ben Bellas Block, vor allem der stellvertretende Regierungschef und Generalsekretär des Politbüros Bitat, des fruchtlosen kalten Krieges müde. Am 20. Dezember letzten Jahres gingen beide ein „Abkommen“ ein, wonach die Syndikalisten auf eigene Parteilichkeit verzichteten — Ben Bella hatte inzwischen sowohl die algerische KP verboten wie die PRS gar nicht erst zugelassen —, jedoch vom Politbüro die Selbständigkeit außerhalb der FLN zugesichert bekommen. Als sich die von Boudiaf alarmierten Exilsyndikalisten in Paris von der AGTA, Födöra-tion und PRS anschickten, gegen diesen „aufgezwungenen Verrat“ aufzubegehren, drängte das Politbüro zu einem nationalen UGTA-Kongreß in Algier, der das Abkommen legalisieren sollte.

Das Dezember-Abkommen hatte freilich einige „kleine Umgruppierungen“ des UGTA-Führungskaders erfordert, die — gewollter oder ungewollter Nebeneffekt — just jene Kontaktspezialisten nach vorne brachte, die es besser mit den westlichen als den östlichen Auslandsgewerkschaften „konnten“, voran die DGB-Star-Verbindung Mustapha Lassei. Bundesdeutschlands Gewerkschaftsdelegation mit ihrem

Ex-Präsidenten Richter an der Spitze traf daher wohlgelaunt und siegessicher zum schließlich für 17. bis 21. Jänner angesetzten UGTA-Kongreß in Algier ein, gewiß, das ebenso zuversichtlich in den Kongreß gehende Kompromißler-Vorstandsgebilde im westlichen Lager zu halten. Auch die zahlreichen geladenen Ostgewerkschaften hatten es indes noch keineswegs aufgegeben, in dem bei afrikanischen Gewerkschaftskongressen üblich gewordene Ost-West-Tauziehen einiges Gelände zurückzugewinnen. Über eine Vorstellung von der inner-algerischen Fronten-Stellung, die mit diesem ost-west-politischen Gewerkschaftssport wenig gemein hat, verfügten beide wenig oder besser: gar nicht. Der in Algiers feuchten Jännertagen an sich schon unter seinem quellenden Fettpolster geplagte und kurzatmige Gewerkschaftsboß Averianov starrte daher genauso vergrämt durch seine dickglasige Proletarierbrille auf das nunmehr abrollende Schauspiel, das DGB-Expräsdent Richter mit einem wiederholten fassungslosen „Alles kaputt“ quittierte.

Am dritten Kongreßtag nämlich, kaum daß man den an die hundert zählenden Auslandsdelegierten ihre Freundschaftstrümpfe hatten ausfeiern lassen, entschloß sich Ben Khiders und Bitats Politbüro, das Dezemberabkommen offensichtlich nur als Zeichen der Schwäche der „Ouvrieristen“ deutend, endgültig reinen Tisch zu machen. Der von Lassei inspirierte Kompromißler-Vorstand wurde kurzerhand überrumpelt, indem Politbürochef Ben Khider das Vorstandspodium schon früh morgens um sechs Uhr von einem ihm ergebenen Neu-Vorstand besetzen ließ. Gleichzeitig wurden seine bisher in der Minderheit befindlichen Anhänger unter den Gewerkschaftsdelegierten — „demokratisch“ gewählt waren diese sowieso nicht, versicherten die „Politbüroler“ — durch ein Entsatzheer in der Vor-Nacht ernannter Neu-Delegierter verstärkt und die Zuschauer-, Presse- wie Gästetribünen mit linientreuem FLN-Volk aus Algier, deren Funktion keine Zweideutigkeit zuließ, okkupiert. Dieses blieb denn auch erfolgreich, die nachfolgenden Tumultszenen in Ple-narium — „Ouvrieristen“, Kompromißler und „Politbüroler“ rissen sich gleichzeitig das Mikrophon aus den Händen, schoben sich dabei gegenseitig vom Rednerpult und bereiteten eine Saalschlacht vor — im frenetischen Applaus für Ben Khiders Neu-Vorstand zu ersticken, der sogar —

zur erneuten Überraschung aller Beobachter — nach Übergang des bisherigen Generalsekretärs der UGTA Rabah Djermane zu den „Ben Beilisten“ fast einstimmig gewählt wurde.

Kommentierte Ben Bella, der seiner Abneigung gegen das Stadtproletariat schon bei der Kongreßeröffnung mit der Bemerkung ausgemalt hatte: „Eure Versammlung gefiele mir besser, wenn ich auf euren Köpfen mehr Bauernkäppis sähe“, anläßlich der Schlußsitzung das Ereignis mit der zusätzlichen Erläuterung: „Ein Land, in dem die bäuerlichen Massen — an die 90 Prozent der Bevölkerung Algeriens — das Leben von streunenden, bestenfalls von Arbeitstieren führen, kann sich keine privilegierte städtische Arbeiter- und Funktionärsschicht leisten. Eure Lohnforderungen gegen die Franzosen früher, das war patriotisch, gegen uns sind sie Sabotage. Ihr müßt warten, bis die Bauern nachgekommen sind.“ Ob Boudiafs „Ouvrieristen“, denen durch den gewerkschaftlichen coup d'etat von Algier der Inlandsboden praktisch entzogen ist, sich mit diesem Trost zufriedengeben, ist freilich unwahrscheinlich. Sie wurden notwendig auf die Agitation aus dem Exil abgedrängt. Doch welcher afrikanische Neu-Staat hat schon nicht seine eigenen unzufriedenen Exil-Agitatoren!

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