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Alltag im Jahre Null

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Sonntag, 6. Mai: Heftiger Geschützdonner in aller Früh: Die SS hat sich am Bisamberg verschanzt und die Kämpfe ziehen sich bis Tulln hinauf. Um 7 Uhr früh kommt, als ob nichts geschehen wäre, mein alter Friseur S. zu mir, um mir die Haare zu schneiden.

7. Mai: Ich bekomme als erster im Bezirk mein Wohnungstelephon wieder angeschlossen. Auch im Büro habe ich eines. Zum erstenmal fahre ich an meine frühere Dienststelle ins Allianzgebäude, wo ich freudig begrüßt werde, dann ins Sozialministerium zu Staatssekretär Böhm. Später, im Amt, erwartet mich die Wirtin vom „Roten Hahn“, man hat ihren Sohn verschleppt. Dieses Schicksal erlitten damals zahllose junge Leute. Die Russen brauchten Arbeitskräfte, fingen sie wahllos auf der Straße zusammen und steckten sie in Arbeitslager. Solche befanden sich in Kaiser-Ebersdorf und bei Maria-Grün im Prater. Es war recht schwer für mich, die Burschen freizubekommen. Auch Richard v. P. war darunter.

Gegen Abend verbreitete sich die Nachricht, daß Deutschland kapituliert hat...

Mittwoch, 9. Mai: Schon vormittags läßt mich der Kommandant zur Siegesfeier in die Offiziersmenage einladen. Ich soll auch die Obmänner der drei Parteien mitbringen.

Als Kuriosum sei die Geschichte erwähnt, die mir mit meinem Auto passierte. Mein Freund Th. hatte endlich aus diversen Wracks und Bestandteilen ein fahrbares Auto für meine Dienstfahrten zusammengestellt. Als ich damit den Bezirk abfuhr, um geeignete Plätze für die Schuttablagerungen festzustellen, hatten wir auf der Erdberger Lände einen Achsbruch. Ich ließ den Wagen abschleppen, und, damit er bestimmt sicher verwahrt sei, im Hofe des Polizeikommissariates einstellen. Einige Tage später meldete man mir, daß der Wagen gründlich ausgeplündert und zerlegt sei, die Hilfspolizei hatte alles gestohlen, was daran verwertbar war. Dieses Schicksal erfuhren noch einige Autos, die man mir zusammengestellt hatte, bis ich dann endlich den Topolino Barons I. und den Fiat 220 des Gastwirtes F. samt

Chauffeuren requirierte und ständig benützte. Gewitzigt ließ ich die Wagen abends in der Feuerwehrgarage einstellen.

Es erscheint mir heute unfaßbar, wie ich es zustande gebracht habe, tagaus, tagein ohne Ruhepause bei durchschnittlich fünf Stunden Schlaf auch viele Monate hindurch nicht nur den täglichen in die vielen Hunderte gehenden Parteienverkehr, die Inspektionsfahrten mit dem russischen Kommandanten auf den Zentralfriedhof, ins Schlachthaus, in die Markthalle, zu den drei großen Lebensmittellagern, durch den ganzen Bezirk, die bis in die späte Nacht währenden Sitzungen auf der Kommandantur zu bewältigen und dabei den Kontakt mit dem Rathaus aufrechtzuerhalten. Selbst in der Nacht wurde ich wiederholt geweckt, so, wenn russische Offiziere eine Kaufbestätigung für „angekaufte“ Autos haben wollten, wenn mir plötzlich von zurückkehrenden Freiheitsbataillonen oder russischen Truppenverbänden gemeldet wurde, für die noch in der Nacht Quartier besorgt und Verpflegung sichergestellt werden mußte. Wie oft habe ich den Bäcker aus dem Schlaf geweckt, damit um sechs Uhr früh Brote vorhanden sind. Dann kamen wieder verstörte Frauen und Männer, in deren Häuser russische Soldaten eingedrungen waren, und baten mich um Intervention gegen Plünderung und Vergewaltigung.

Dazu kam die täglich frühmorgens vorzunehmende Einteilung der Arbeitskräfte für den Bau des Denkmals auf dem Stalinplatz, die Auf-räumungs- und Bombentrichterver-schüttungsarbeiten.

Am 25. Mai wurden sämtliche Bezirksbürgermeister von Bürgermeister Körner eingeladen, mit den Obmännern der politischen Parteien zum Hotel Wimberger zu kommen, wo uns General Blagodatow in Gegenwart eines persönlichen Gesandten Stalins Mitteilung von der großzügigen Erbsenspende Stalins machte und gleichzeitig die Einführung von Lebensmittelkarten ankündigte. Ein großer Stab von Offizieren war zu diesem Zwecke nach Wien delegiert worden, um in den Kartenstellen die Kontrolle auszuüben.

Am nächsten Tag stellte mir der Kommandant auf der Kommandantur 20 Offiziere vor, die für die Kartenstellen des Bezirkes bestimmt waren. Ich besprach mit meinem Ernährungsreferenten Oberintendant Wanicky und der Leiterin der Kartenstellen bis in die späte Nacht die Durchführung dieser Aktion.

In den nächsten Tagen war es nun meine Aufgabe, täglich dreimal in die sechs Kartenstellen des Bezirkes zu fahren, um dort den russischen Offizieren gegenüber aufklärend zu wirken und die verzweifelten Beamtinnen vor Übergriffen in Schutz zu nehmen. Teils hatte man die russischen Offiziere nicht richtig informiert, teils wußten sie nicht recht, worum es ging. So teilten sie die Schwerarbeiterkarten nach ihrem Ermessen zu. Gefiel ihnen ein junges Mädel, erhielt sie die Schwerarbeiterkarte, während man sie wirklich Anspruchsberechtigten manchmal verweigerte! Die dagegen protestierenden Kartenstellenleiterinnen wurden beschimpft, bedroht und sogar zur Strafe in den Keller gesperrt. Meine Intervention wurde von allen Seiten verlangt, denn meiner Entscheidung mußten sich die Offiziere

— fügen. So befreite ich ein Kontrollorgan des Magistrates, das die Kartenstelle inspizieren kam, aus einer mehrstündigen Haft in einem Keller der Kartenstelle in der Hainburger Straße.

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