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Als das große Flüchten begann…

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Eines Tages, als das große Flüchten begann, kam dem Wiener Caritasdirektor der Gedanke, es wäre besser, die ungarischen Flüchtlinge statt in Lager in leerstehende, saisonlose Gasthöfe Niederösterreichs zu schicken. Um den Wirten zu nützen? Nein, nicht um den Wirten zu nützen, sondern den Menschen, den Familien, den Einzelwesen. Möglichst viele sollten aus der Lageratmosphäre herausgehalten werden. Vielleicht könnte man, hieß es auf dem Währinger Gürtel, 500 Ungarn auf die menschliche Art unterbringen, dann war von 2000 die Rede, dann dachte man: vielleicht sei es gar möglich, 5000 von 20.000 zu nehmen, ein Viertel vom Ganzen…

Das Flüchten ging weiter. Es blieb nicht bei 20.000. Es wurden zuletzt 170.000. Kein Zweifel, daß so eine Masse nicht mehr in Gasthöfen allein Platz hatte. Kein Zweifel, daß Lager errichtet werden mußten. Der Zustand in Eisenstadt, des dortigen Lagers in der von den Russen verlassenen Rheinlandsiedlung, in den Urtagen der Flucht, ist bekannt. Der Trais- kirchens ebenfalls. Seine luftschutzfarbenen Mauerungetüme, Kadettenanstalt, Bundeserziehungsanstalt, Napola, zuletzt Russenkaserne, ohne Licht, ohne Wasser, ohne sanitäre Anlagen, ohne funktionierende Küche, voll mangelhafter Improvisationen und mit echten Sowjetsternen geziert — sie waren für die Tausende, die hier durchmußten, eine schreckliche Enttäuschung, eine sonderbare Visitenkarte des „Westens”. Der damalige Lagerleiter — er konnte auch nichts dafür, daß die Flüchtlinge nicht in die fertigen Kasernen mit Wasser. Klosetts, Küchen, Licht und Betten gegeben wurden — war heilfroh, als eines Tages die Caritas mit ihren Postautos aufkreuzte, um den Menschendruck im Lager zu mindern.

Das war der Anfang einer Aktion: ein Autobus voll Flüchtlinge nach Edlitz, geführt vom Leiter der SOS-Gemeinschaft, einer nach Maria- Anzbach, ins Kloster Maierhöfen. Der Busfahrer steuerte über den Ring und durch die abendlichtervolle Mariahilfer Straße. Der elegante Reisebus zog an Warenhäusern und Schaufenstern vorüber, an Lichtern in allen Farben, und die Insassen waren wie verzaubert. Das gab es nicht in Budapest und Kecskemet, nicht in Györ und Tatabanya. Der Bus schaukelte weiter. Hinter Hütteldorf, wo nebenan die elektrischen Züge dahinflogen, schaltete der Fahrer die Tanzkapelle ein, und draußen im Kloster wurde schon das Nachtmahl für die fremden Gäste aus dem Osten bereitet. Hoch türmten sich die Tuchenten. Die Schwestern sahen bei der Ankunft erschreckt drein… Auch Männer im Frauenkloster! Gewiß, der liebe Gott hatte auch Männer gemacht, und es war Flucht.

Die Traiskirchner Transportration der Caritas begann mit zwei Autobussen täglich und stieg auf drei, vier, fünf, sieben, zwölf, vierzehn, dreiundzwanzig. Das war die Rekordzahl. Einundzwanzig Busse waren bestellt, zwei weitere fanden sich, also rollten dreiundzwanzig nach den verschiedensten Winkeln des südlichen und westlichen Niederösterreich. Die Aktion verlangte eine unaufhörliche Adressenbeschaffung, die Erstellung von Fahrplänen, die Bestellung der Fahrzeuge und der Begleiter aus der Studentenschaft, den vollen Einsatz des Transportteams, einer kleinen Einheit im Zeichen einer fast frontmäßigen Kameradschaft, zunächst unter der Leitung eines erzbischöflichen Sekretärs. Es war gar nicht so einfach, zum Deix nach Asperhofen zehn Flüchtlinge zu schicken, und zum Bagl nach Rossatz zwölf, nach St. Leonhard am Walde sechsunddreißig und nach Bischofstetten dreizehn. In der Folge erwies es sich als zweckmäßiger, die Flüchtlinge direkt aus Eisenstadt zu holen, um ihnen mancherlei zu ersparen und den Druck vom Eisenstädter Lager zu nehmen. Allmählich entstand in der dortigen Rheinlandsiedlung eine mustergültige Caritasstelle, mit Kleidermagazin, Kirchenzelt, mechanischem Glockengeläut über die eigene Lautsprecheranlage, ungarisch sprechenden französischen Schwestern und Seelsorgern. Täglich um 10 Uhr stand die Post in der Lagerstraße. Um 11 Uhr waren die Fahrzeuge, meist vier oder fünf, unterwegs, Es war zweckmäßig geworden, den Flüchtlingen, um Enttäuschungen zu vermeiden, lu sagen, daß es 60 oder 90 Kilometer weit von Wien weggehe. Denn das Ziel fast aller war Becs (Wien), der Ort, Von dem aus es rasch auszuwandern ging, der Ort der Sehnsucht, alle 170.000 wären am liebsten nach Becs gekommen…

Nun steckten die Caritas-Ungarn in den Gasthöfen. In Prein und in Tauchen, in Ybbsitz und Ottenschlag. Aus Tauchen kam der Obmann des Fremdenverkehrsvereins: „Könnten wir nicht noch hundert haben?” Es war erstaunlich. Anderswo hatte der Bürgermeister die Gäste persönlich empfangen. Reichenau wieder hatte die größte Ungarnkolonie — ein Vizebürgermeister hatte genus zu tun, indem er sich um sie kümmerte. Die Pfarrer mobilisierten die Gemeinden: Der gute Wille zeigte sich. Es zeigten sich auch negative Fälle unter den ungarischen Gästen — aber auch negative Haltungen unter den Gastwirten. Dem war der Verpflegs- betrag zu klein (28 S pro Tag und Erwachsenen, davon 20 S vom Innenministerium und 8 S von der Caritas — ohne die Kosten für Betreuung und Auswanderungsapparat). Der Wirt gab zuwenig Essen, jener heizte schlecht. Zur Ehre der Wirte sei gesagt, daß die negativen Fälle einen bescheidenen Prozentsatz nicht überschritten, und dasselbe kann auch von den Gästen gesagt werden. Unter der Leitung einer energischen Wiener Dame war ein Stab von 50 ehrenamtlichen Helfern in der Freizeit unterwegs, um die Insassen von 244 Gasthöfen zu betreuen, mit Kleidern, Taschengeld und dem Nötigen zu versehen. Aus dem Bedürfnis der Auswanderung erwuchs eine eigene Auswanderungsstelle. Es war schwer, die Menschen aus den entferntesten Tälern nach Wien zur Untersuchung zu bringen, einmal, auch zweimal…, sie zu registrieren, sie zur endgültigen Auswanderung nach Wien zu bringen: inzwischen rollten neue Frachten aus Eisenstadt an, inzwischen erschien eine ungarische Zeitung, ein ungarisches Kirchenblatt, kam Weihnachten, und wir glauben, daß die Gasthof-Ungarn, wenn sie dereinst in Neuseeland; USA oder Kanada Weihnachten feiern, Äiit herzlichen Gefühlen an die österreichische Gasthof-Weihnacht 1956 denken werden, an die kleinen Christbäume in den Zimmern, an die zweite Welle der Herzlichkeit, die nach der ersten im Oktober-November aus der guten Seele unseres Volkes rollte.

Caritas heißt Liebe. Wir haben versucht, alle zu lieben, die wir aufnahmen. Als wir sie auf- nahmen, haben wir weder nach dem Bekenntnis noch nach der Weltanschauung oder der politischen Ueberzeugung gefragt. Wichtiger schien es für unsere Anteilnahme, daß einer Kinder mit sich hatte. Familien in die Gasthöfe zu geben — das schien uns wichtig! Nur einmal, als wir mitten in der Nacht gleich vom Zug Flüchtlinge in die vielen Autobusse nahmen, mußten wir scharenweise junge Burschen übernehmen, die aus Angst vor den Russen gekommen waren. Das war ein Umstand, der unser Programm zwangsläufig änderte.

Wir hatten wenig Zeit dafür Propaganda zu machen. Eine einzige Pressefahrt gab es, und die am Beginn, als alles in der Entwicklung war. Mag sein, daß das ein propagandistisch-psychologischer Fehler war. Mag sein, daß heute einer nur beachtet wird, wenn er kräftig schreit. Und dennoch, obwohl wir nicht lärmten, kamen vom Attersee, aus Kärnten, aus der Steiermark und aus Salzburg, ja, selbst aus dem fernen Vorarlberg Bettenangebote an die Wiener Caritas.

Eines Tages, im Jänner, hieß es, daß die Regierung ihren Kopfbeitrag von 20 S nicht mehr zahlen werde und daß die Flüchtlinge, wenn wir die Kosten nicht allein tragen könnten, in die Lager zurückmüßten. Das war eine harte Botschaft. Geduldig und ungeduldig hatte die Zahl derer in unserer Betreuung, die nach den USA wollte, auf unsere Verständigung gewartet, hatten alle jene, die noch nicht an der Reihe, die noch nicht ausgewandert waren, die Verständigung ersehnt. Allein konnten wir die vollen Verpflegskosten für eine noch beträchtliche Menschenzahl nicht tragen — so mußten wir die Gäste in die Autobusse der Bezirkshauptmannschaften einsteigen lassen, mit dem Versprechen, die Auswanderung auch von den Lagern aus zu betreuen. Wir wollten uns nur die Härtefälle, die Kranken und jene behalten, die nicht auswandern, sondern in Oesterreich bleiben mochten. Nicht in allen Fällen nahmen die ausführenden Organe der Landesregierung Rücksicht auf unsere Wünsche. Wir haben nun Personen in den Lagern, die wir dort nicht hinhaben wollten. Wir wollen daraus niemandem einen Vorwurf machen. Wir wollen nur sagen, daß es falsch ist und daß es falsch wäre, der Ungarn-Mode — der Hilfsbereitschaft, des Denkens vom November — die Zugeknöpftheit, die Kleinlichkeit, die Unbereitschaft folgen zu lassen, wie sie sich da und dort entwickelt. In dem oder jenem Ort mögen sie die Ungarn nicht? Dann, bitte, zu bedenken, daß die Flüchtlingsfrage nicht nur eine menschliche, daß sie auch eine politische Frage ist. Es hüte sich Oesterreich, eine Chance zu verpassen. Möge der Glaube an weite, sogenannte billige Lager und an eine tüchtige Icem den politischen Sinn im Oesterreicher nicht ersticken, nicht den Sinn für enge Kontakte mit einem altbekannten Nachbarvolk.

Wir haben durch 250 Gasthöfe 6100 Flüchtlinge hindurchgeführt, für kürzere und für längere Zeiten: wir haben weiter noch in unseren Gasthöfen die beschränkte Zahl jener, die krank sind — einige ausgesprochene Fürsorgefälle, die kein Ausland nimmt und auchH jene, iie von Anbeginn . sagten: .-Wir. wollen nicht - aus- •, wandern, wir wollen in Oesterreich bleiben”, und die dieser Haltung auch durch die Nichtregistrierung Ausdruck gaben. Wir fühlen uns verpflichtet, das Vertrauen dieser Menschen auf eine Lebensmöglichkeit im Lande nicht zu enttäuschen und für sie weiter etwas zu tun. zunächst, daß wir sie nicht in die Lager führen wollen.

Das Lager ist eine Bildung hauptsächlichst des Krieges und der Nachkriegszeiten. Es ist keine Wohnstätte auf Dauer Zu unserer Schande sei gesagt, daß wir noch Volksdeutsche Altflüchtlinge in gewissen Lagern haben. Nur Unfähigkeit könnte sich mit dem Gedanken Zufriedengeben, von den 20 000 bis 25.000 Ungarn, die in Oesterreich bleiben wollen, einen Großteil in zehn Jahren auch noch in Lagern zu wissen.

Es ist kaum möglich, im Handumdrehen in Oesterreich genügend Wohnungen für alle Bedürftigen zu bauen, doch wie man das tun will und welche internationale Unterstützung hierzu notwendig ist, darüber muß nachgedacht werden. Gäbe es für einen Flüchtling beispielsweise in Aspang eine Arbeitsmöglichkeit, so wäre es höchst unsinnig, seine Familie vielleicht in Wollersdorf oder Traiskirchen im Lager zu lassen, statt sie in einen Aspanger Gasthof zu setzen, so lange, bis die Wohnfrage dieser Familie gelöst ist. Dieses Beispiel zeigt, daß sich die Verantwortlichen für das Flüchtlingswesen mit dem Gedanken vertraut machen müssen, trotz Fremdenverkehr und Saison von einer bestimmten Bettenanzahl jedes Gasthofes eine gewisse Zahl zu amtlichen Sätzen für Flüchtlinge „abzuzweieen” und von den in Arbeit stehenden Flüchtlingen eine Dazuzahlung je nach dem eigenen Verdienst zu verlangen

Wir haben nicht viel von der Gastaktion gesprochen, als sie bei uns in vollem Schwung war. Wir glauben jedoch, daß die für die Flüchtlingsangelegenheiten Verantwortlichen in Oesterreich spätestens im Herbst dieses Jahres auf diese Art, die Wohnprobleme der bleibenden Flüchtlinge provisorisch zu- lösen, zürückkommen müssen, weil sie uns auf jeden Fall als Lösungs- möglichkeit — und ganz besonders für Familien - organischer scheint als die der Unterbringung in Lagern. Und daher ist dieser Nachruf kein echter Nachruf, sondern ein Hinwei s auf eine notwendige Gastaktion im Großformat.

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