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Als die große Allianz innerlich zerbrach

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Inmitten fernöstlichen Waffenlärms ist der dritte Band der Erinnerungen Churchills, „The Grand Alliance“, erschienen und hat in der mit Zukunftssorgen vollgesogenen Welt weniger tiefen Eindruck gemacht als seine Vorgänger. Zu Unrecht; umspannt das vorliegende Werk doch den Zeitraum, da Stalin in die Front der Westmächte gekämpft wird — man kann es nicht anders nennen — und die ersten Monate gleichzeitiger Kriegsführung. Die Eigenschaften aber, die ein Mann in Bündnis und Fehde an den Tag legt, sind geheimnisvoll miteinander verbunden, man hat es mit Komplementärfarben des Charakters, Kontrapunktik des Wesens zu tun. /Der dritte Band! „The Gathering Storm“, „Their Finest Hour“ und nun „The Grand Alliance“! Erstes Rätsel: Wie kann ein Mann, der die englische Opposition führt, Reisen in alle Welt unternimmt und die europäische Einigungsbewegung leitet, ein solches Riesenwerk mit dieser Schnelligkeit vortreiben? Die Antwort ist natürlich die, daß er über ein Team hervorragender Mitarbeiter gebietet, die den Stoff formen und bändigen, daß oft nur mehr Lasurlichter aufgesetzt werden müssen. Zweites Rätsel: Wieso kann dann jeder Absatz, ja jede Zeile so eminent persönlichen Charakter tragen? Nun, Churchill ist ein Bildhauer, dessen Rohmaterial — die Historie — immer wieder geheimnisvoll mit Adern eigenen Seins durchzogen ist. Formung von außen, Wachstum von innen, beides „churchillisch“. Extrem formuliert: Ein Mensch, der vom letzten Krieg nichts weiß und nichts studiert hätte als die Beziehung Churchills zu Roosevelt und Stalin, könnte immerhin einen Begriff des großen Dramas erhalten, während einem anderen, der aller Fakten kundig wäre, außer des inneren Gespräches dieser drei Männer, doch der Kern der Dinge stets verborgen bleiben müßte.

Die Beziehung zu Stalin begann erst an dem Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion. Ein Ereignis, das den britischen Premier weit weniger überraschte als seinen Gegenspieler im Kreml. Ja, Churchills Mitarbeiter hielten es nicht einmal für nötig, von der Faustregel abzugehen, nach welcher der Premier einzig bei der Invasion Englands vor der Zeit geweckt werden dürfte. Als man es ihm schließlich um 8 Uhr mitteilte, setzte Churchill nur lakonisch die Zeit fest, da er im B. B. C. sprechen wollte. Es war eine sehr bemerkenswerte Rede. Erstens, weil Churchill sehr klar und ohne schöne Worte mitteilte, daß man den Russen helfen müßte. Weil nämlich der Ansturm gegen den Osten nur als Vorspiel für die Niederwerfung der britischen Inseln gedacht war, wofür inzwischen der historische Beweis erbracht werden konnte. Zweitens, weil Churchill, im Gegensatz zu den militärischen Experten, die mit nur kurzem russischem Widerstand rechneten, fühlte, daß die auf eigenem Boden angegriffene russische Volksmasse Triebkräfte entfalten könnte, die unberechenbar seien.

„Die Vergangenheit mit ihren Verbrechen, Torheiten, Tragödien, sie erlischt... ich sehe den russischen Soldaten... wie er die Äcker verteidigt, die Väter und Vorväter bebaut haben von uralter Zeit her... ich sehe sie ihr Heim schützen, wo Mütter und Frauen beten — oh, doch, denn es gibt Zeiten, da alle beten — für das Leben ihrer Lieben, für die Rückkehr des Erhalters, Ernährers, Schützers ...“

Wie dunkel und schwer klang dieses „ah yes, for there are times when all pray“ und wie seltsam schien es den Schleier seelenloser Oberflächen von den tiefen Gründen russischer Herzen zu heben! i

Der Rundfunkbotschaft an das englische Volk folgte ein persönliches Schreiben an Stalin, in dem letzthin dasselbe enthalten war. Erst am 18. August — zu einem Zeitpunkt, da man die erste Phase der Aggression in ihren Folgen bereits abschätzen konnte — antwortete Stalin. Es ist das einzige Schreiben, in dem er den Versuch macht, die Teilnahme am deutschen Landerwerb zu entschuldigen.

„Man kann sich leicht vorstellen“, schreibt Stalin, „daß die Lage der deutschen Streitkräfte weit vorteilhafter gewesen wäre, wenn die Sowjettruppen den

Angriff nicht im Räume Kishinew, Lemberg, Brest, Kaunas und Viborg, sondern bei Odessa, Kamensk Podolsk, Minsk sowie in der Gegend von Leningrad hätten ertragen müssen.“

Im weiteren Verlauf des Schreibens aber wird zum erstenmal die Forderung nach der „zweiten Front“ erhoben.

Churchill weist auf die angespannte Lage Englands hin und sagt recht deutlich: „Vergessen Sie nicht, daß wir mehr als ein Jahr ganz allein kämpfen mußten!“

Inzwischen waren bereits die ersten Hilfssendungen eingetroffen oder unterwegs. In einem Schreiben vom 29. August spricht Churchill von 445 modernsten Jägern und weist auf das schwere Opfer hin, das gerade diese Sendung bedeutet.

Am Abend des 4. September überbringt Maisky Stalins Antwortschreiben. Dem etwas frostigen

„Ich danke für den versprochenen Verkauf von 200 Jägern, zu denen weitere 200 kommen sollen.. folgt ein Lamentum über die erschütternde Lage:

.....all dies ... hat die Sowjetunion in tödliche Gefahr gebracht. Ich glaube, es gibt nur mehr eine Möglichkeit, die Situation wiederherzustellen: Die Errichtung einer zweiten Front am Balkan oder in Frankreich, die 30—40 Divisionen abziehen würde. Gleichzeitig müßte die Sowjetunion 30.000 Tonnen Aluminium bis Anfang Oktober erhalten und eine monatliche Hilfe von mindestens 40 0 Jägern und 500 Tanks.“

An diesem Brief fällt vor allem auf, ''aß Stalin sich persönlich um die

Aluminiumlieferung bemühen mußte. Es war also den Russen nicht gelungen, in sicheren Räumen so viel Rohstoffe aufzustapeln, daß der Krieg aus eigenem durchgestanden werden konnte. Da Aluminium den Transportraum für Waffen oder Werkzeugmaschinen sperrte, konnte natürlich hier keine „finnische“ Finte vorliegen. Noch am selben Abend berief Churchill, der spürte, daß der russische Widerstand sich dem kritischen Punkt nähere, den Ministerrat ein. Danach verfaßte er ein Antwortschreiben, in dem er zunächst vollkommen ehrlich die Illusionen des Georgiers zerstreute:

„Bs besteht keine Aussicht, daß eine zweite Front errichtet wird, ohne daß die Türken am Balkan zur Hilfe kommen.“ was sie denn prompt nicht taten. Im übrigen macht Churchill hier zum erstenmal den Versuch, die russisch-britischen Beziehungen auf die Ebene einer nobleren Waffengefährtschaft hinaufzuheben:

„In Ihrem ersten Punkt sprechen Sie von .Verkauf (gemeint sind die Jäger). Wir haben die Sache nicht so aufgefaßt, nie an Bezahlung gedacht.“

Die Dinge in Rußland entwickelten sich weiter zuungunsten der Russen. Am 15. September — inzwischen war nebst Aluminium vor allem auch malaiischer Gummi in Rußland eingetroffen — traf ein neuer Brief des russischen Diktators ein.

„Ich hoffe, daß die britische Regierung reichlich Gelegenheit haben wird, zu der Überzeugung zu gelangen, wie sehr die Sowjetregierung die Hilfe ihrer Verbündeten zu schätzen weiß.“

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