6597212-1953_14_06.jpg
Digital In Arbeit

Altösterreichs Erfahrung für Europa

19451960198020002020

Walther Tritsch ist einer der zwanzig Europäer, die zur Diskussion des am 10. März 1953 in Straßburg den Mächtevertretern überreichten Europa-Entwurfs eingeladen worden sind. Sein jüngstes Buch ist „Metternich und sein Monarch“.

19451960198020002020

Walther Tritsch ist einer der zwanzig Europäer, die zur Diskussion des am 10. März 1953 in Straßburg den Mächtevertretern überreichten Europa-Entwurfs eingeladen worden sind. Sein jüngstes Buch ist „Metternich und sein Monarch“.

Werbung
Werbung
Werbung

I.

In den Beratungen über eine Verfassung des Europäischen Bundes war Oesterreich bisher ebensowenig vertreten wie die Schweiz. Die Gründe sind einleuchtend. Solange es sich darum handelte, ein Organ zu schaffen, das nur die Komprornißbildung zwischen den verschiedenen Willensäußerungen verschiedener Nationen erleichtern oder erzwingen sollte, also gleichsam eine „Internationale der Nationalismen“ darstellen konnte, hatten diejenigen, denen Europa etwas anderes bedeutet als Rückversicherung und Ausgleich der Nationalismen untereinander, in solchen Beratungen nichts zu suchen.

Nicht etwa, als ob Verständigung und Ausgleich zum Beispiel zwischen dem deutschen und dem französischen Nationalismus nicht nützlich wären. Bloß — ein Schweizer oder ein Oesterreicher m$g solche Kompromißbildungen nicht mit dem verwechseln, was ihn an der Schaffung eines einigen Europas interessiert. Wir träumen nun einmal nicht von einem Ausrichten von Nationen, sondern von einem übernationalem Gebilde, das alle jene Kräfte oder Interessen oder Werte schützt, die nur zu Unrecht durch Schulunterricht und nationale Literaturen fast überall als nationale Werte ausgegeben worden sind. Nationale Werte sind aber etwas gänzlich anderes. Und es ist unsere Ueberzeugung, daß pur eine- übernationale Schöpfung — eine echte europäische Gemeinschaft — es den Nationen ermöglichen kann, sich in ihrem Schutz frei zu entfalten, jede für sich, endlich befreit von der Sorge und von der Verteidigungspflicht gegenüber jenen Werten, die ihnen allen nicht anstehen und die nur das wahre Wesen der Nationen' gefährden können, weil sie es verfälschen. Man mag dann ein solches gemeinschaftliches Gebilde einen Staatenbund oder einen Völkerstaat nennen, oder sonst wie — gleichviel. Eine bloße Zusammenfassung oder Angleichung verschiedener Nationalinteressen ist es bestimmt nicht.

Lange Zeit versuchten Schweizer und Oesterreicher — darunter der Verfasser — den Westeuropäern klarzumachen, daß Nationen nicht einheitliche, statische, örtlich lokalisierte oder lokalisierbare Gebilde, sondern lebendige Kraftfelder sind, die einander auch überlagern oder durchdringen können, und daß ihr Zusammenleben niemals in einem künstlich konzertierten Nebeneinander, sondern nur in einem integrierten Miteinander bestehen kann für gemeinsame Ziele: gegenüber von Kompetitionen oder Kompromissen von nationalen Gebietsambitionen werden Schweizer und Oesterreicher immer neutral bleiben.

IL

Inzwischen haben aber sogar die geistigen Väter von Benelux erfahren müssen, daß eine nützliche Kompromißbildung z. B. zwischen den Interessen der alten Konkurrenten Antwerpen und Rotterdam weder gleichbedeutend mit den Interessen von Benelux sind noch gar mit den Interessen von Europa. Ein Ganzes ist eben nicht bloß die Summe seiner Teile und schon gar nicht einer Kompromißbildung zwischen seinen Teilen gleichzusetzen pder mit ihr zu verwechseln. Und die Flamen und Wallonen, die ihr altes, noch von der weiland österreichischen Verwaltung vor 1790 ererbtes Staatsprinzip der Freizügigkeit und gleichberechtigten Mehrsprachigkeit im Jahre 1951 zu verlassen für gut befunden und untereinander neue Sprachgrenzen ausgehandelt haben, lernen jetzt wenigstens an den Folgen, wie man es n i c h t machen sollte.

Mag es diese Erfahrung sein oder eine andere — mag vielleicht nur ein Vorstoß von besonders pfiffigen oder besonders vorsichtig sich dünkenden Nationalisten daran schuld sein — die alte, in unseren Augen naive Vorstellung vom Wesen eines europäischen Bundes ist jetzt endgültig verlassen worden.

In dem Entwurf der „Versammlung ad hoc“, den die Europa-Verfassungskommission nach dem Beschluß der sechs Außenminister innerhalb der vorgeschlagenen Frist von sechs Monaten, also genau am 10. März 1953, den Mächten vorgelegt hat, ringt bereits ein neues Prinzip nach entsprechendem Ausdruck. Ein Grundprinzip, das den Erfahrungen übernationaler Verwaltung, wie die Schweizer sie haben und Altösterreicher sie hatten, nicht ganz fremd ist. Und sofort wurden auch solche angeblich „g'elernten Europäer“ freundlich eingeladen, hierzu sach- und erfahrungsgemäß sich zu äußern.

III.

Was hat also ein Altösterreicher gemäß seiner österreichischen Erfahrung in diesem neuen am 10. März den Vertretern der Staaten vorgelegten Europa-Entwurf zu sagen?

Vorweg sei ausdrücklich betont: wenn ein Altösterreicher in diesem internationalen Gremium das Wort ergreift, so ist es nötig, daß er zunächst zwischen politischer, administrativer und grundsätzlicher Erfahrung deutlich unterscheide. Es wäre ein sehr vergebliches Beginnen, etwa die Praxis des alt-: österreichischen Systems eines Völkerstaates vor denen zu verteidigen, die noch immer darauf sehr stolz sind, dieses System zerstört zu haben: man hört dann nämlich gar nicht auf uns.

Aber wenn auch das Prinzip des übernationalen Völkerstaates in Oesterreich aus historisch-politischen Gründen vielleicht nie hat korrekt durchgeführt werden können, so ist es doch eine Tatsache, daß es wenigstens in manchen altösterreichischen Vcrwaltungs-methoden trotz allem hie und da als „meritorisches Verfahren“ halbwegs korrekt angewandt — und daß dieses Prinzip auf allen altösterreichischen Universitäten immer wieder ziemlich korrekt gelehrt worden ist.

Nicht im geringsten der Verteidigung altösterreichischer Politik oder altösterreichischer Zustände darf daher gewidmet sein, was ein Oesterreicher heute mit Nutzen in einem internationalen Gremium vorbringen kann und soll, wohl aber der Darlegung von Grundsätzen, welche gemäß den Erfahrungen — guten und üblen Erfahrungen — im alten Völkerstaat langsam entwickelt, immer wieder als gültig erkannt und vielleicht einst in altösterreichischen Universitäten und Verwaltungsakademien doch auch halbwegs richtig gelehrt worden sind: für die Darlegung solcher Erfahrungen ist ihm nämlich im Auslande die freundliche Aufmerksamkeit eines internationalen Auditoriums stets sicher.'Für die Verteidigung — selbst für die wohlberechtigte Verteidigung — altösterreichischer Männer ist dagegen die Zeit noch nicht reif.

Noch immer gilt im Auslande das erstaunliche Wort, das Lloyd George einst im Jahre 1919 in deft Verhandlungen von Versailles zum ahnungslosen Wilson sprach, daß, wer das Unglück hatte, in Altösterreich als Tscheche geboren zu sein, nur Minenarbeiter werden konnte. Ein Blick in jeden beliebigen altösterreichischen Amtsschematismus hätte ihn zwar eines Besseren belehren können — aber die Menschen ziehen es eben immer vor, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Und das ist schließlich ihr gutes Recht.

Stören wir sie also nicht dabei. Beschränken wir uns auf das, was als Grundsätze für einen freien Völkerstaat hier und da bei uns erprobt und gelehrt worden ist und lassen wir jede Kritik — Angriff oder Verteidigung — von historisch-politischen Anwendungen oder Nichtanwendungen oder Verletzungen solcher Grundsätze völlig beiseite.

IV.

Der neue Entwurf zu einer Europa-Verfassung greift in seinen §§ 31 und 53 einen altösterreichischen Grundsatz auf. Es heißt nämlich dort, die europäische Regierung (§ 31) und das europäische Parlament (§ 53) könnten an Stelle von Gesetzen auch „E m p f e h-lungen mit Gesetzeskraft“ vorschlagen und beschließen: diese letzteren binden die hohen vertragschließenden Teile nur hinsichtlich der Ziele, die jede solche Empfehlung genau zu umreißen haben wird, aber nicht auch hinsichtlich der Methoden und Formen, gemäß welchen jeder der hohen vertragschließenden Teile diese Ziele zu erreichen für nützlich erachten könnte, und die daher diesen zu überlassen sind.

Damit ist — von den Politikern wahrscheinlich zunächst völlig naiv und unbewußt und nur dem Drange folgend, möglichst viele von den „nationalen Belangen“ der Vertragschließenden erzklug zu schonen — der alte Gegensatz zwischen dem formalistischen — vor allem französischen — und dem meritori-schen altösterreichischen Verfahren aufgedeckt. Und das ist ungeheuer wichtig.

Die Pariser Regierung hat fünf Jahrhunderte lang zentralisiert. Französische Gesetze schwiegen sich gewöhnlich über ihre Ziele aus, schrieben immer nur starre Formeln und formen vor, die Aemter hatten dann gemäß diesen Formeln Akten anzulegen, und diese Akten — nach Paris zu schicken, wo sie dann in Serien zu Tausenden — nach entsprechender Verzögerung, und in einer nie zu enträtselnden Reihenfolge — unterschrieben wurden. Das war zur Vereinheitlichung des Landes fünf Jahrhunderte lang sehr nützlich. Ausgezeichnet sogar. Für eine moderne Staatsverwaltung zeigt es sich aber als weniger geeignet, daher die gegenwärtigen Bemühungen der Franzosen um eine vernünftige Verwaltungsreform. „II est formellement interdit...“: für die französischen Ohren klingt das heute noch peremtorisch und duldet weiter kein Nachdenken, keinen Widerspruch, keine Ausnahme. Für unsere österreichischen Ohren klingt es anders: „Wenn's nur förmlich verboten worden ist, so hat der Gesetzgeber vielleicht sachlich etwas damit erreichen wollen, was für den vorliegenden Fall durch Anwendung dieser Form gar nicht erreicht wird? Untersuchen wir es also meritorisch..

Denn in Altösterreich wurden Gesetze nicht als Formeln erlassen, die starr ohne mögliche Rücksichtnahme auf ihren wahren Sinn anzuwenden wären: In Oesterreich wurde verwaltet. Die Gesetze enthielten einen Motivenbericht, eine Darlegung ihrer Absicht, und diese Absicht war das Zwingende, Bindende, auf das die Verwaltungen oder überhaupt die Ausführungsorgane sich zu berufen hatten, nicht formell, sondern meritorisch: das war Staatsgrundsatz. Wenn die Erfüllung der Gesetzesabsicht im vorliegenden Fall nachweislich eine Abweichung von der durch Gesetz vorgeschlagenen Formel nötig machte, so war der betreffende Beamte berechtigt, ja verpflichtet, eine solche Abweichung für den vorliegenden Fall zu statuieren und im Akt zu rechtfertigen. Im Rahmen der altösterreichischen Gesetzgebung waren also die lokalen Verwaltungen nicht blind ausführende Unterorgane ohne jedes

Entscheidungsrecht wie die französischen Behörden es solange geblieben sind, sondern im Gegenteil zur sinngemäßen Anwendung aktiv mitaufgerufen, sie konnten selbständig Ausführungsbestimmungen erlassen und sinngemäß verändern, immer im Hinblick auf den zu verfolgenden festgegebenen und jedesmal gerade dadurch erst als erfüllt zu beweisenden Gesetzeszweck.

Das ergab die berühmte Kette von Ante-zedentien und Verwaltungsentscheidungen — ein „meritorisches“ Verfahren, das die jedesmal an örtlich oder persönlich besonderen Verhältnisse genau adaptierte VerwaJ-tungspraxisidee des Völkerstaates sichern sollte und sie wohl auch in vielen Fällen recht gut gesichert, hat.

Die §§ 31 und 53 der vorgeschlagenen neuen Europa-Verfassung geben den Altösterreichern vielleicht Gelegenheit, diese ihre sehr alte Erfahrung der europäischen Gemeinschaft aufs neue dienstbar zu machen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung