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Am Ende fast das Chaos

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Noch selten dürfte das Wort vom vielen Porzellan, das unnötig zer-ichlagen wurde, so fatal zutreffend gewesen sein, wie auf die nun beendete Frühjahrstagung 1967 des Nationalrates. Ihr Beginn war verheißungsvoll: Nach den mehr improvisierten Maßnahmen des Jahres 1966, die zugleich eine langsame Einübung in die für Österreich längst ungewohnten Zustände einer echten parlamentarischen Demokratie mit regierungsfähiger Mehrheit einer Partei und wirksamer Kontrolle durch die Opposition ermöglichten, wollte die ÖVP in dieser Frühjahrstagung einige Fragen von grundsätzlicher Bedeutung lösen. Sie war sich darüber im klaren, daß die mutig angepackten Probleme vitale Interessen der Staatsbürger betrafen und daß sie deshalb für ihre Lösungsvorschläge bei der nächsten Wahl einstehen werde müssen. Da sie sich ferner für die ihr „sachlich richtig“ erschienenen und nicht einfach nur „populären“ Lösungen entschieden hatte, wollte die Mehrheit naturgemäß diese Maßnahmen sobald wie möglich hinter sich haben, damit bis zum nächsten Wahltag nicht allein die Härten, sondern auch die erhofften günstigen Auswirkungen zutage treten könnten. Die Opposition ihrerseits teilte mit der Mehrheit zumindest die Auffassung von der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen. Sie war sich daher auch bewußt, daß es für sie darum ging, mögliche Alternativen aufzuzeigen, um bei der nächsten Wahl als glaubwürdige Konkurrenz zur Regierungspartei auftreten zu können.

All dies schien zunächst dazu beizutragen, einen vorbildlich demokratischen Stil des Zusammenwirkens zwischen Regierungspartei und Opposition auf parlamentarischem Boden zu entwickeln: Die Verhandlungen über das Wohnbauförde-rungsgesetz, das Einkommensteuergesetz und das Familienlastenaus-gleichsgesetz waren zwar spannungsreich, aber es war eine dem Allgemeinwohl förderliche Spannung; die Regierung hatte Gesetzentwürfe vorgelegt, hinter die sich vorerst auch die Mehrheitspartei stellte; in eingehenden Ausschußberatungen aber brachten vor allem Abgeordnete der sozialistischen Fraktion zahlreiche Abänderungsanträge ein, von denen nicht wenige Berücksichtigung fanden, so daß durch die Mitarbeit der Opposition die ursprünglichen Gesetzestexte noch wertvolle Verbesserungen erfuhren.

Dazu kam weiters, daß zwischen den parlamentarischen Fraktionen offenbar Übereinstimmung bestand, die Frühjahrstagung nicht bis über den 30. Juni hinauszuziehen und deshalb nicht alle Regierungsvorlagen zu verabschieden, die insbesondere in den letzten Wochen als wahre Papierfluten über die Abgeordneten hereinbrachen. Daß nämlich in einer einzigen Sitzung — und zwar gerade in der letzten hierzu geeigneten vor der großen Sommerpause — mehr als 50 Vorlagen der Bundesregierung vom Schriftführer des Nationalrates als eingebracht verlesen werden mußten, das hatte es selbst zur Zeit der großen Koalition nicht gegeben.

Allerdings trug schon der Endtermin 30. Juni den Keim des Unheils in sich. Denn wenn auch mehr als 30 (!) Regierungsvorlagen unerledigt über die Sommerferien in den Ausschüssen liegen bleiben sollten, so war das restliche Arbeitspensum doch noch immer zu groß, um vom Nationalrat wirklich bis zum selbstgewählten Endtermin erledigt werden zu können. Je näher man diesem ominösen Datum kam, desto mehr scheint der Uberblick vor allem in der Präsidialkonferenz verlorengegangen zu sein. Die naive Vorstellung, etwas Wesentliches retten zu können, wenn man den Sonderausschuß zur Wohnbaureform und den Finanz- und Budgetausschluß auch noch nach mehrstündigen Haussitzungen tagen ließ, erregte vorerst noch mehr Heiterkeit als Ärger. Als man aber bei Beratung des Mietrechtsände-rungsgesetzes und des neuen Einkommensteuergesetzes mit den Sitzungsterminen der Ausschüsse schließlich in die letzte Juniwoche hineinschlitterte, in der nun auch das Plenum mit seinen Arbeiten fertig werden sollte, wurde der Zeitdruck in des Wortes wahrster Bedeutung unerträglich. Trotzdem hielt „man“ an der ursprünglichen Zeiteinteilung fest: Mit Plenarsitzungen am 28., 29. und 30. Juni sollte die Früh Jahrstagung offiziell zu Ende gehen! Die Zauberformel, dies reibungslos zu gestalten, ward natürlich nicht gefunden. Der Antrag eines ÖVP-Abgeordneten auf Schluß der Debatte im Sonderausschuß für die Wohnbaureform war — was „man“ wohl leicht hätte vorhersehen können — keine solche Zauber-, sondern eher eine Unheilsformel. Ganz klar, daß die Opposition mit Rachegelüsten in die Plenardebatte über das Mietrechtsänderungsgesetz eintrat. Die erste Aktion in dieser Hinsicht war wohl der Antrag der SPÖ, über das Mietrechtsänderungsgesetz General- und Spezialdebatte getrennt abzuführen.

Und hier begann das Unheil: Der Antrag wurde niedergestimmt, der Präsident und der Zweite Präsident sowie die Klubobmänner zogen sich zu einer improvisierten Präsidialsitzung zurück und dem Abgeordneten Zeillinger von der FPÖ wurde als erstem Kontraredner das Wort erteilt. In völliger Instinktlosigkeit nahmen dies mindestens zwei Drittel der ÖVP-Abgeordneten zum Anlaß, den Sitzungssaal zu verlassen, was die beiden Oppositionsparteien, die ohnedies schon erbittert waren, maßlos erregte. Der den Vorsitz führende Dritte Präsident Wallner sah sich einer Situation gegenüber, die er nur geschäftsordnungsmäßig oder politisch lösen konnte: Geschäftsordnungsmäßig hätte er, als er die Debatte nicht mehr ordnungsgemäß leiten konnte, die Sitzung unterbrechen müssen; politisch aber war nicht abzusehen, wie die Opposition auf eine solche Unterbrechung weiter reagiert hätte. Denn nach dem vorzeitigen Schluß der Debatte im Ausschuß und der Ablehnung einer getrennten General- und Spezialdebatte hatte sie wohl vor, das Gesetz mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen. Präsident Wallner entschloß sich daher, die Sitzung nicht abzubrechen, sondern ermahnte die Abgeordneten immer wieder, die Plätze einzunehmen. Daß ihn seine eigene Fraktion bei dem Bemühen um Fortsetzung der Verhandlung im Stich ließ, war mindestens ebenso ein Grund für die sich steigernden Tumulte, wie das Verhalten des eigentlich am Worte befindlichen Redners, der nicht mit seinen Ausführungen begann, sondern sich an den Zurufen gegen den Präsidenten beteiligte. Es grenzt fast an ein Wunder, daß der Nationalrat nach einer Abstimmung über einen Antrag zur Geschäftsordnung, der trotz erfolgter Worterteilung an einen Redner zugelassen worden war, sowie nach einer Unterbrechung der Sitzung über diese Situation noch hinwegkam. Als am folgenden Tag der Generalsekretär und Klubobmann der ÖVP zur heiß umstrittenen Vorlage das Wort ergriff, um der Opposition klar zu machen, daß nach den demokratischen Spielregeln bei unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten eben das zu geschehen hätte, was die Mehrheit will, ertönte der Zwischenruf: „Sie wollen aber auch das Tempo bestimmen“, worauf Dr. Withalm sich zur Erwiderung hinreißen ließ: „Selbstverständlich“, und von ÖVP-Seite noch der stolze Ruf ertönte: „Schließlich haben mir a die Mehrheit“. Das war für die Opposition der neuerliche Anlaß, ihre Möglichkeiten zu beweisen, und das Ganze endete damit, daß zehn Tagesordnungspunkte auf den Herbst verschoben werden mußten. Darunter solche, die — wie zum Beispiel ein internationaler Vertrag — in genau derselben Zeit erledigt hätten werden können, wie ihre geschäftsordnungsmäßige Absetzung dauerte. Aber am Schlüsse dieser Frühjahrstagung hatte niemand mehr einen Uberblick. Was so hoffnungsvoll als neuer Stil des Zusammenwirkens von regierender Mehrheit und oppositioneller Minderheit begonnen hatte, endete fast im Chaos. „Fast“ — weil immerhin die Schlußansprache des Präsidenten des Nationalrates Dr. Maleta bei allen jenen die Hoffnung nicht völlig sinken ließ, denen an Demokratie und Parlamentarismus in Österreich gelegen ist

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