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Am Vorabend von Weltgesprächen

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Von Dr. Leopold Rosenmayr

Von der Tradition dęs europäischen Denkens her gesehen, war es eine ideologische Entscheidung, um die es bei den Präsidentschaftswahlen von 1952 in den Vereinigten Staaten ging.

Der demokratische Kandidat Adlai E. Stevenson trat für „Staatspolitik“, für gewisse Souveränitäten des Bundes den einzelnen Staaten gegenüber, für Investitionen der öffentlichen Hand und soziale Gesetzgebung ein. In klarer Sprache arbeitete er seine Position heraus; seine sozialphilosophischen Grundsätze wurden in Zeitungsberichten und Tagesdiskussionen verarbeitet. Sie berührten dadurch Kreise der Bevölkerung, die sich vorher nicht mit solchen Gedanken befaßt hatten.

Der Volksentscheid fiel jedoch zugunsten Eisenhowers, des Kandidaten der Republikanischen Partei, aus. Als volkstümliche Figur aus Kriegszeiten und als organisatorischer Praktiker auf den Schild der Kandidatur gehoben, hatte er durch seinen Erkundungsabstecher nach Korea und die mehr liberali- stische Linie in der Innenpolitik Vertrauen eingeflößt. Im Wahlkampf legte er das Gewicht auf konservative Versprechungen; er siegte als Anführer eines „moralischen Kreuzzuges“, als Ordnungsstifter „in der von Kommunisten und deren Mitläufern durchsetzten Gesellschaft“.

Amerika hat sich für den entschieden, der eine Wiederherstellung der Gesellschaft versprach. Somit wird besonders interessant,

welches gesellschaftliche Modell für den amerikanischen Durchschnittsbürger der Erhaltung und Wiedereinsetzung wert ist.

Das soziologische Modell der amerikanischen Gesellschaft ist immer noch die „community“. (Das wird hier nicht mit dem deutschen Ausdruck Gemeinschaft übersetzt, weil diesem für die Kennzeichnung amerikanischer Formen zu sehr der Geschmack, der Romantik anhaftet.) Die Wurzel der Kommunitätsauffassung reicht bis in die Frühzeiten der Besiedlung des Gebietes der USA zurück. Zuerst taucht die Vorstellung von Kommunitäten bei den aus Holland und England nach dem Nordostęn der USA eingewanderten religiösen Sekten und Nonkonformistengruppen des 17. Jahrhunderts auf. Umfassende kirchliche Institutionen mit allgemein verpflichtenden Formen werden verworfen; die frühen Siedler sind antikirchlich orientiert, und ihre Vorstellung von Kommunität beruht auf dem Enthusiasmus von Bruderschaft oder dem Wunsch nach Selbstverwaltung.

Diese Kommunitäten werden immer noch als der Kern angesehen, aus dem die amerikanische Gesellschaft emporwuchs. In der Tat, das Gemeinschaftsgefühl dieser Kommunitäten, erprobt im Kampf mit der feindlichen Umwelt des neuen Kontinents, erprobt auch im Kampf um die Freiheit vom einstigen Mutterlandes gab der Ausbreitung der Staaten über den Kontinent hin ihren Charakter. Es wird an der Front der Zivilisation, die sich im 18. Jahrhundert über die Bergketten des Ostens des amerikanischen Festlandes in die Graslandschaften und Steppen des Mittelwestens vorschiebt, fernab von jeder staatlichen Verwaltungsquelle, in den Siedlungskolonien durch den Begriff des unmittelbaren und lebensnotwendigen Selbstschutzes für eine örtlich begrenzte menschliche Gruppe vertieft.

Es ging nicht um Kolonisation zur Vermehrung der Macht einer zurückgebliebenen Heimat; eine neue „Heimat“ hatte der Siedler nur insofern, als er selbst in der „community“ gegründet war. Heute, da nicht mehr die Aexte in den Wäldern klingen, aus denen die Kolonistenhütten zu zimmern waren, lebt — es sei nun in New York, Chikago oder Los Angeles — der Begriff einer direkten Verantwortung für die Kommunität noch so stark, daß es geradezu als Sache der „Nachbarschaft" und des Wohnblockes angesehen wird, einen Totschläger, Mörder und Kidnapper zu fassen; hieraus erk…r t sich ein manchmal geradezu intimes Verhältnis zur Polizei.

In einer sich ausbreitenden Gesellschaft kann die neue „Heimat“ jederzeit verschoben werden, da ja überall „communities“ entstehen können. Durch die unaufhaltsame Westexpansion wurde der Gedanke der „community“ bis an die pazifische Küste vorangetragen. Trotz allen örtlichen Verschiebens wird das Modell der „community“ so nicht von einem revolutionären, sondern von einem konservativen Kern getragen.

Wie leicht zu sehen ist, handelt es sich bei der „Community“ um eine Vorstellung und eine dynamische gesellschaftliche Realität, die wohl von der angelsächsischen Vorliebe für Urteilsinitiatjve und konkretes Recht begünstigt wurde, aber doch stärkstem aus der Grenzersituation der Pioniergruppen ihre Festigkeit und Spannkraft empfing.

Als die Ideen der französischen Aufklärung von Intellektuellen und Politikern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts pach Amerika gebracht wurden, fielen sie dort auf fruchtbaren Boden. In den „communities“ fand sich der konkrete Ort, um sie zu verwirklichen. In (Jet ungesicherten Grenzersiedlung war die Bewahrung und methodische Kultivierung des bereits Errungenen kategorischer Imperativ: der religiöse Methodismus verschiedenster Art hatte Erfolg in dpn Außenposten der Zivilisation. In den intellektuellen und politischen Zentren jener Zonen, die vor weißen Räuberbanden und Indianerstämmen bereits gesichert waren, koppte sich der Gedanke der methodischen und kommunitären Pflege der an sich guten menschlichen Nątur durchsetzen. Auch heute kennt man noch das Vertrauen in eine intellektuelle Lokalinstanz, welche die kontinuierliche Entwicklung und Prosperität einer Stadt und eines bestimmten menschlichen „Einzugsgebietes“ garantieren soll. Das College oder die Universität soll tüchtige Ingenieure,' Sozialwissenschaftler, Psychologen und Pastoren für die „community"produzieren und ihr dergestalt dienen.

Es war der Begriff der „community“, der in Amerika, im Kampf um die Eroberung ein?« Kontinents geformt, dem Denken der Aufklärung über den Individualismus hinaus zu einer Theorie und Vorstellung von gegenseitiger Hilfe und personalem Schutzverhältnis verhalf. Als aus Deutschland, Holland. England, Irland, Skandinavien, Italien, Polen, Griechenland, Armenien abgemergelte oder erfolgsgierige Existenzen in Flutwellen über den Städten des Ostens der USA zusammenschlugen und nach Westen in die dünn besiedelten Gebiete abzuströmen begannen, blieb für die Entwurzelten kein anderes regelndes Ideal als jenes der Kommunität. Flüchtlinge brachten ihre Radikalismen über den Atlantik mit, verunglückte oder extreme Figuren segelten mit ihren irrealen Sehnsüchten und Träumen zur amerikanischen Küste. „Drüben“ gab es keine Möglichkeit, nach europäischem Schema Revolution zu machen. Wer von den Randexistenzen nicht dem Gangstertum verfiel, ergoß in der Neuen Welt seinen Enthusiasmus in das Idealmodell der Kommunität.

Im Schillern der verschiedensten Kulturtraditionen, die zusammenflossen und aufeinanderprallten, der verschiedenen religiösen Bekenntnisse, die sich siedlungsmäßig und söziographisch überkreuzten, verblieb kein anderer Nenner tragfähiger Art als jener der pionierhaften, fortschrittsgläubigen und praktisch-personalistischen Hilfsinstitution und Rechtsgemeinschaft der „community“ oder, wie man drüben in ebenso lebendigem

Sprachgebrauch der Gegenwart sagt, der „guten Nachbarschaft1.

Mittlerweile hat die Ausbreitung Amerikas ihre natürlichen Grenzen erreicht; innere Krisen wurden überwunden, und die USA stehen da als ein fester Komplex von „communities", selbst eine nach „Fügung“ strebende Kommunität. Es ist der Augenblick gekommen, da Amerika in einer anders als kriegerischen Spannung inmitten eines international-politischen Kraftfeldes steht.

Nun wird die Frage brennend, ob die USA mit ihrem Prinzip des „good neighbor“, zu dem Franklin D. Roosevelt sich auch noch in der Außenpolitik bekannte (erste Inaugural-Ansprache vom 4. März 1933), in der jetzigen Weltsituation auskommen.

Für den europäischen Beschauer, der seit I Alexander dem Großen, Kaiser Augustus, ä Kaiser Konstantin und den sakral-politischen i sowie national-sakralen Imperatoren an das | Denken in den Kategorien von gesellschaft-1 lieh sich auskristallisierenden heilbringenden | Reichsvorstellungen gewöhnt ist, nimmt sich | der Begriff der „guten Nachbarschaft“ einerseits ąls eng, anderseits aber als beneidenswert aus.

Der Außenseiter Stevenson hat mit seinen Reden, die aus der klassischen amerikanischen Gesellschaftslehre der Jahrhundertwende (Charles S. Pierce, Josiah Royce, William James) gespeist waren, die Tür zu einem politischen Programm zu eröffnen gesucht, welches über den Begriff der „community“ hätte hinausführen sollen. Tatsache ist, daß er| vielen, die seine Reden lasen (und studierten), zur Wahrnehmung jener Dimension der gesamtpolitischen Verantwortung verhelfen hat, die weder der zweite Weltkrieg noch auch der Koreakonflikt zu eröffnen vermocht hatten. Bei der Wahl ist aber der Begriff der „community“ siegreich geblieben.

Amerika hat sich durch die Wahl Eisenhowers und der Republikanischen Partei dazu bekannt. Obwohl mit der spezifischen Kom- mümtätsideologie zunächst eine konservierende Selbstbeziehung' gewählt wurde, hat man aus praktischen Gründen in den Reihen | der Republikanischen Partei die Notwen-I dig k eit einer Weltoffenheit zu-S gegeben. Eisenhower selbst konnte mit | seiner eigenen Erfahrung als Organisator der| alliierten Streitkräfte in Westeuropa keinen | Isolationismus vertreten.

Wird es aber in der jetzigen Situation, am Beginn von Weltgesprächen, genügen, daß Amerika sich durch den Druck der Notwendigkeit zu einem Bezug zum Ganzen drängen Heß? Und wird die „community“ ihren isolierenden Charakter sprengen und einer Politik des Weltbezuges, die der ökumenischen Weite einer befruchtenden Berührung offensteht, ihren Geist einhauchen können?

Gegenwärtig kann man nur sagen, daß Politik und Mentalität der „community“ entscheidenden Männern des amerikanischen Denkens und der amerikanischen Politik nicht mehr genügen und daß nach einer Politik der Beziehung, der Gesellschafts- und Weltfindung gesucht wird.

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