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Amnestie

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Die NS-Gesetzgebung soll aufgehoben werden. Man darf wohl sagen: Endlich! Mit der Liquidation aller Gesetze um das Phänomen des Nationalsozialismus in Oesterreich wird eine Hypothek gelöscht, welche die Schaffung eines österreichischen Staatsvolkes in einer bedenklichen Weise zu behindern vermochte. Vor allem — wie, was heute manche vergessen, in den Spalten dieses Blattes zuerst festgestellt wurde — war es falsch, davon auszugehen, man könne Unrecht mit Unrecht gutmachen. Die NS-Gesetzgebung stand nicht nur im Zusammenhang mit der gebotenen Wiedergutmachung allein, sondern hatte weitgehend auch Strafcharakter. Da man aber, im Widerspruch zu den guten Sitten und auch zur christlichen Moral, das Gesetz pauschal gegen eine ganze Gruppe von Menschen, ausgehend von Formalprinzipien, ohne Prüfung des individuellen Verhaltens, anwendete (und, von den Besatzungsmächten gezwungen, anwenden mußte), wurde neues Unrecht geschaffen.

Vom Gesetz wurden nicht allein Schuldige, sondern auch diejenigen betroffen, die sich den Bestimmungen des Gesetzes nicht zu entziehen verstanden. Viele Prominente und vor allem eine große Zahl von Nutznießern des Dritten Reiches, die aber durch keine formale Mitgliedschaft gebunden waren, konnten in einer bewunderungswürdigen Schnelligkeit ihre vollendete politische Unschuld beweisen. Mit einem wohlsortierten Paket von Bestätigungen versehen, zogen sie von Amtsstelle zu Amtsst elle und zu wiederentdeckten und neu in Kurs gekommenen gewichtigen Freunden, um schließlich nach einigen Demütigungen und Meineiden bei der neuösterreichischen Musterung ihre Unbedenklichkeit und ihre Verwendungsfähigkeit (insbesondere in der „Wirtschaft“, die ihrer sehr „bedurfte") bestätigt zu erhalten. So kam es, daß nicht selten der SS-Mann vom März 1945 einen Monat später sich als Richter gegenüber seinen Kampfgenossen aufspielte und — wie in einem Fall — sogar den Plan eines für ehemalige Nationalsozialisten bestimmten Anhaltelagers entwarf. Den Märzveilchen von 1938 entsprachen die nicht minder verabscheuungswürdigen Aprilblüten des Jahres 1945. Ganz besondere charakterliche Reichweite zeigten jene Mannen des „Führers“, die sich nach dem Einmarsch der Sieger in deren zivile Dienste begaben und so indirekt ein zweites Mal ohne Unterbrechung Besatzungsdienste versahen.

Als die Tore der Konzentrationslager sich öffneten, kamen auch Kriminelle in eine ihnen von Berufs wegen ungewohnte Freiheit, die sie benützten, um sich über die ihnen vorerst amtlich zuerkannte Naziopferrolle in den Besitz von mobilen Vermögensgegenständen nationalsozialistischer Herkunft zu setzen. Schließlich konnte ihnen auch nicht zugemutet werden, sich geraden Weges vom KZ zum nächstgelegenen österreichischen Gefängnis zu begeben und dort mit aufgehobenen Händen um „Wiedereinstellung“ zu ersuchen. Daher nutzten sie die Chance der ersten Wochen, um sich in der „Branche“ zu betätigen. Sie beschlagnahmten Wohnungen und eigneten sich Möbel und sonstige tragbare „Kleinigkeiten" an. Soweit sie sich nicht zum Berufswechsel entschließen konnten, sitzen die Kriminellen, die den Ruf der politischen Häftlinge in einer unerhörten Weise zu schmälern verstanden, schon wieder in ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, an den Ufern der Donau etwa, oder sie haben Publizität durch Ausschreibung im Fahndungsblatt. Das, was sie sich geleistet haben, wurde denen sls Straftat in die Schuhe geschoben, die für die Führung des Landes verantwortlich waren, zumal eine geschickte und gewissenlose Propaganda es versuchte und versucht, „KZler" mit Kriminellen zu identifizieren.

Durch die NS-Gesetzgebung und vor allem durch die von den Besatzungsmächten erzwun- fgene Handhabung der Ausführungsbestimmungen ’kairr"es nieht zu einer Ent nazifiziefung (die besorgte die Zeit besser), sondern vielfach zu einer Nazifizierung von Schichten, die vordem nur aus Not oder wegen eines dienstlichen Druckes der Partei beigetreten waren, sonst aber im Nationalsozialismus eine Bewegung sahen, der man lediglich chinesisch, das heißt mit nichtssagendem Lächeln und Gesten (zu denen der „deutsche" Gruß gehörte) begegnen konnte. Obwohl das auf die Entnazifizierung abgestellte Gesetzeswerk als Mittel gedacht war, ein österreichisches Staatsvolk schaffen zu helfen, war es Anlaß für die Konstituierung einer staatsabgeneigten Gruppe. So entstand eine politische Gruppe einfach aus dem Widerspruch, ohne politisches Konzept, wenn auch die Erinnerung an die „gute, alte Zeit" etwas wie eine Gemeinsamkeit im Denken und in den Slogans zu schaffen vermochte. Als Abfallprodukt entstand weiter ein Talmimythos der zweiten „Kampfzeit" (die für viele die erste war), der „Verbotszeit“, und eine menschlich vielleicht verständliche Abneigung gegen die neue Regierung. Wer seine Wohnung verloren oder seine Stellung hatte aufgeben müssen, lebte durch Jahre in einem Zustand intensiven Widerspruches. Auch die Gründung einer nationalen Partei schuf keine geeignete Betätigungsmöglichkeit, um so mehr als weder VdU noch FPOe direkte Nachfolger der NSDAP geworden sind.

Schuldige und Unschuldige wurden vom Gesetz her zu einem form-, aber nicht widerspruchslosen „grauen Heer“ — so auch der Titel eines diesbezüglichen „Furche "-Aufsatzes in jenen Jahren — zusammengepfercht. Ebensowenig unterschied man zwischen denen, die aus reiner Gesinnung und nur im Rahmen der bestehenden Gesetze gehandelt hatten, und den üblen Geschäftemachern. Man unterließ es, dem anständigen Gegner jene Ehre zu lassen, die.' jedem ritterlichen Gegner zusteht (während es freilich nationalsozialistische Ueber pugung war, daß der Gegner keine Ehre habe). Schließlich führte die NS-Gesetzgebung zu einer sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung. Mir ist nicht bekannt, daß einige der großen Herren, die sich 1933 bis 1943 mit einer ihrem Rang angemessenen (daher dosierten) Leidenschaft für ..ihren“ Führer einsetzten, in ihrem Einkommen oder ihrem Vermögen nach 1945 erheblich geschmälert worden wären. Von der gesellschaftlichen Stellung ganz zu schweigen. Denn gegen sein Vaterland zu stehen, gilt in einer bestimmten Schichte unseres Landes noch immer als ein „Kavaliersdelikt". Die kleinen „Ehemaligen“ warf man flugs auf die Straße und aus den Wohnungen. Die „Großen" des Landes aber vertauschten ihr Braunhemd mit dem Frack und fanden ohne Unterbrechung offene Türen in jenen Kreisen, die sich zuweilen als „Gesellschaft“ bezeichnen, es aber in einem anderen Sinn sind, als sie es wahrhaben wollen. Wurden sie mit einer Strafe belegt, die für sie nur den Charakter einer Symbolstrafe hatte, hatten sie noch den wohltuenden Genuß, von allen Seiten Gegenstand wortreichen Mitleides zu sein. Während sie 1943 — nach Stalingrad — den militärischen Dienstgrad Adolf Hitlers entdeckten und daraufhin Schlüsse auf die Feldherrnqualitäten des „Führers" zogen, hatten sie, falls sie „Opfer" der NS-Gesetzgebung geworden waren, nun vor dem her, was sie „Gewissen“ nannten, „berechtigten“ Grund zum Widerspruch gegen alles Oesterreichische.

Wenn mit der Zweiteilung der Staatsbürger in Oesterreicher und Noch-Oesterreicher nun Schluß gemacht wird, muß auch — so hoffen wir — Schluß gemacht werden mit den Märtyrerposen, in denen sich manche gefallen, die von einer ni.cht gerade klugen Gesetzgebung betroffen worden waren. Der kleine Eisenbahner, der nun auf einem Privatpo?ten sich' schlecht und recht durchbringt und sich die ihm 1945 entwendeten Möbel kaum mehr ersetzen kann, wird mit Recht keine helle Freude an seinem Zustand finden. Die anderen aber, die schon wieder (oder gar erstmalig) arriviert sind, sollten besser ihre selbstgefällige Märtyrerpose ablegen und in ein Rollenfach hinüberwechseln, das ihrer tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Stellung angemessen ist. So manchem, der sich noch verfolgt sieht, paßt die Pose nicht zum gutgenährten Gesicht.

Mit der nunmehr formell gleichen Qualifikation aller Staatsbürger, der Deklaration einer (jetzt: letzten) Gruppe von Staatsbürgern zu „Vollösterreichern" wird ein staatspolitischer Akt ersten Ranges gesetzt, dessen Bedeutung man sich heute, zwölf Jahre nach dem Kriegsende und fast genau 19 Jahre nach der ersten „Befreiung“ Oesterreichs, kaum mehr voll bewußt zu sein vermag.

Wir dürfen auch annehmen, daß die formelle Liquidierung des NS-Problem dazu dient, eine unselige Entwicklung zu beenden, die von 1866, wenn nicht von früher her, datiert und die Bürger unseres Landes in „Nationale" und in Oesterreicher geteilt und zu den grotesken Entartungen der Zeit von 1933 bis 1938 geführt hat.

Die Beendigung der „Entnazifizierung" (welch ein Ausdruck I) heißt freilich nicht, daß etwas, das Unrecht war, nunmehr gerechtfertigt er scheint und daß etwa Hochverrat jetzt legitim erscheint. Voraussetzung dafür, daß wirklich das „Naziproblem“ den Charakter eines geschichtlichen Phänomens hat, ist das eindeutige Grundsatzbekenntnis aller Bürger des Landes zum österreichischen Vaterland, nicht allein zur Heimat (recte „Gau") Oesterrcich (recte „Ostmark“), sondern zu einem politisch-staatlich unabhängigen Oesterreich, dessen Bestand, wie sich 1938/39 und seither erwies, eine europäische Notwendigkeit ist.

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