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An dem Rand geschrieben

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1. MAI MIT „KNALLEFFEKTEN. Er ist sehr geruhsam geworden — dieser 1. Mai. Der Traditionsoufmarsch der Wiener Sozialisten gehört genau so wie die sich wegen einer Übernahme des Spaliers gerne nahtlos anschließende Maiparade der KP zum stehenden Bild. Im Konzerthaus hält an diesem Tag oder wie dieses Jahr an einem Vorabend, die Volkspartei eine Maikundgebung ab. Der Arbeit die Ehre: Diese Ansicht ist allgemein geworden und wird von keiner Seite noah bestritten. Der Abend des Festtages erfreut dann Marschierer und Spaziergänger in gleicher Weise mitunter mit einem Feuerwerk … Dieses- mal explodierten die Knallkörper eine Nacht zuvor. Und es waren keine harmlosen Feuerwerksraketen, es war eine Sprengstoffladung am Denkmal der Republik, nahe dem Parlamenf. Dieses Denkmal der Republik ist uns nicht gerade ans Herz gewachsen. Es entstammt einer Zeit, in der die Republik von einer Seife parteipolitisch „vereinnahmt" wurde, über das Republikdenkmal kann man also ruhig diskutieren — eines jedoch darf man nicht: Es zum Exerzierplatz für Bombenaffentate machen. Wo leben wir? In Algier oder in Österreich? Die Zeit der Böller und Höllenmaschinen darf hierzulande keine Renaissance erfahren. Welche Hände waren hier wie bei der Brandstiftung im Fernsehstudio und den später erfolgenden telephonischen Drohungen im Spiel? Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf schnelle und saubere Aufklärung. Vielleicht scheucht die Bombe gegen das Denkmal der Republik auch jene Politiker aus ihrer Ruhe, die sich bisher von der Wohlstandsfassade täuschen ließen und blind waren für die Agitation jener Kräfte, die sich hinter ihr sammeln. D e r Weckruf müßte genügen.

VERHANDLUNG IM GEFÄNGNIS) In einer — übrigens auch von österreichischen Blättern übernommenen — Kurzmeldung aus Italien wurde bekanntgegeben, daß eine Funktionärin des Berg-Isel-Bundes, namens Doktor Viktoria Sfadlmayer, an der Brennergrenze verhaftet wurde. Man „vergaß" zunächst mitzuteilen, daß die Genannte immerhin die zuständige Südtirolreferentin der Tiroler Landesregierung und ordentliches Mitglied der ständigen österreichischen Ver- handlungsdelegation. ist, die sich in diesen Tagen auf das neue Gespräch mit Italien in Klagenfurt vorbereitet. Rückfragen behördlicher und bald darauf auch diplomatischer Art wurden von Bozen und Rom aus zunächst mit jenem Achselzucken beantwortet, das sonst nur bei volksdemokratischen Verhaftungen üblich ist. Auf dem etwas ungewöhnlichen Weg von Zeitungsartikeln erfuhr Österreich dann nach und nach, was man der Österreicherin vorwirff: „antinationales Verhalten" (mit Gefängnis bis zu zwei Jahren strafbar), das in einem „belastenden Briefwechsel" mit einem bereits inhaftierten Funktionär der Südfiroler Volkspartei bestanden haben soll. Man weiß nicht mehr recht, was der römische Verhandlungspartner eigentlich bezweckt. In logischen Zusammenhang gebracht, kann diese Verhaftung aus heiterem Himmel, die man kaum als lokalen Übergriff bezeichnen kann, nichts anderes bedeuten als eine Bombe gegen das bevorstehende Klagenfurter Gespräch. Was aber dann? Man glaubt, den nächsten Schritt Österreichs vorausberechnen und konterkarieren zu können. Aber auch den übernächsten und alle folgenden? Selbst Machiavelli hielt sich nicht für unfehlbar!

SIERRA LEONE WURDE GEBOREN.

Ein katholischer Priester, ein Kaplan der anglikanischen Hochkirche und ein mohammedanischer Geistlicher beteten nacheinander am vergangenen Donnerstag in einem Souterrainlokal auf dem Stephansplatz für das Glück und die Zukunft des neugegründeten afrikanischen Staates Sierra Leone. Ein ebenholzschwarzer Medizinstudent aus jenem Land zog im gleichen Augenblick die neue Flagge auf, da in Freetown der neue Premierminister (ebenfalls Mediziner von Beruf) die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie geflüchteter Negersklaven verkündete. Und zur gleichen Zeit, da dort der Herzog von Kent im Namen der Königin von England und des Commonwealth den neuen Staat als gleichberechtigtes Mitglied anerkannte und Glück wünschte, tat dies hier in jenem Souterrainlokal der in Österreich akkreditierte britische Botschafter inmitten einer Schar übermütiger und freudiggestimmter farbiger Studenten und ihrer österreichischen Freunde. Ein anderer Student aus Sierra Leone, der hier Geologie studiert und bei der österreichischen Mineralölverwaltung praktiziert, dankte allen im Namen seiner Nation. Und darnach tanzten und sangen all die jungen Leute, schwarze, braune und weiße die ganze Nacht in dem Souterrainlokal gegenüber dem ernsten Bau unseres alten Domes, dem die Jazzmusik gar nicht unangebracht schien, da sie viel echte Freude ausdrücken half.

GELEGEN ODER UNGELEGEN. Daß

Präsident de Gaulle entschlossen ist« nicht nur die Rebellen in Algerien selbst mit den für militärischen Ungehorsam einzig adäquaten militärischen Mitteln zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch das Netz ihrer Hintermänner und Förderer im Mutterland aufzudecken, sichert ihm die Sympathie auch jener, die nicht seiner politischen Auffassung sind. Die Kirche Frankreichs zeigte, daß sie die Zeichen der Zeit verstanden hatte. Die Kardinäle der „ältesten Tochter der Kirche" stellten sich auf dem Höhepunkt der Krise auf die Seite der Republik. Msgr. Duval, der Erzbischof von Algier, sprach dies in einem Hirtenbrief deutlich aus. Die allerchristlichsten „Ultras" forderten daraufhin in Flugblättern den Boykott des Gottesdienstes und dispensierten höchsteigen von der Sontagspflicht.

REGENTSCHAFT. Seit dem Jahr der Monarchendämmerung, 191819, da ihre Schwester Adelheid dem groß- herzoglichen Thron entsagte, regierte Charlotte das souveräne Luxemburg. Es hatte damals die letzten, nur noch wirtschaftsorganisaforischen Bande, die die alte Reichsfestung Lützelburg mit dem Reich, dem es drei Kaiser gestellt hatte, verknüpften, abgestreift. Charlotte, die einzige Frau, die in diesem Jahrhundert neben den niederländischen Landesmüttern auf dem europäischen Konfinenf regierte, gehörte mehr als vierzig Jahre nur ihrem kleinen Volk. Sie zögerte nicht, beim gewaltsamen Einbruch der „Stammverwandten" in ihr Land ein klares Neinl zu rufen, um dessen Mannhaftigkeit sie mancher Nachbar mit weit größerer Macht nachträglich beneiden mochte. Sie blieb in schweren Exiljahren die unbeugsame Repräsentantin des Daseinsrechts ihrer Untertanen. Nun weiß sie, mit der angeborenen und gereiften Diskretion ihres Geschlechts, den rechten Zeitpunkt für einen harmonischen Abschied zu finden. Vom 1. Mai an hat ihr vierzigjähriger Sohn Jean — Johann von Luxemburg — mit dem Titel eines Prince-Lieutenanf die Regentenpflichfen übernommen. Eine Regentschaft von Mutter und Sohn also, ähnlich, wenn natürlich auch nicht vergleichbar im staatsrechtlichen Sinn, wie sie in Österreich von 1765 bis 1780, vielleicht der glücklich ausgewogensten Epoche unserer Geschichte, bestand, als sich Theresianisch-Konservatives mit Jose- phinisch-Forf schriftlichem verband.

KENNEDY AM SCHEIDEWEG) Die amerikanische Öffentlichkeit und nicht nur sie, befaßt sich nach den ersten hundert Tagen Regierungstäfigkeit, die für jeden neuen Präsidenten als ein erster Testfall erachtet werden, freundlich und kritisch mit den Worten und Taten Kennedys. Mit den Worten: der begabte junge Mann hat zu viel Worte gemacht. Das sagen auch Freunde von ihm, dazu kommt eine nicht ungefährliche Reaktion, die längst ihre Truppen gesammelt hat. Die Schlappe in Kuba, das Versagen einiger Behörden und Apparate läßt in gewissen Kreisen eine Art Hysterie entstehen, die von den nicht ungeschickten Epigonen McCarthys zielbewußf ausgenützt wird. Vielleicht versucht Kennedy selbst diesen Trend aufzufangen, indem er in einem eindringlichen Appell die Presse ermahnt, eine kriegsähnliche Selbstzensur auszuüben, und erklärt, eine „erbarmungslose Verschwörung” umgäbe das Land. Schon hat eine Suche nach „Saboteuren" begonnen: jener Teil der europäischen Presse, die ihre Sympathie mit den reaktionären Rebellengeneralen in Algier mindestens für einen Moment sichtbar zum Ausdruck brachte, beginnt bereits zu frohlocken. Das ist kein gutes Zeichen — weder für uns, noch für Amerika.

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