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An den Rand gekhriefeu

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DIE STRASSE HAT SICH ZU WORT GEMELDET. Nach der Drucklegung der letzten Ausgabe der „Furche” ereignete sich der Skandal, dal; der Bundesminister für Justiz von Demonstranten so sehr bedrängt wurde, dal; nur die Geistesgegenwart einiger Polizeibeamter ihn im letzten Augenblick vor Tätlichkeiten bewahren konnte. Er muljte fliehen und unter dem erstbesten rettenden Torbogen verschwinden; wenig später wurden dann auch der Vizekanzler, zugleich Vorsitzender der SPD und Präsident der Sozialistischen Internationale, von der Menge beschimpft, ausgeptiffen, und auch der Gewerk- schattsbundpräsident wurde nicht anders begrübt. Wer waren Urheber und Exekutoren dieser Skandalszenen, die zumindest in der Zweiten Republik ohne Beispiel dastehen? Nach allem, was man darüber in den verschiedenen Kommuniques lesen konnte, waren es Funktionäre und Mitglieder der verschiedenen Organisationen der Sozialistischen Partei in Niederösterreich, im Burgenland und in Wien. Es waren die berüchtigten Olah-Anhänger. Was bedeutet das aber, ein Olah-Anhänger zu sein? Es bedeutet, daf; man mit der gegenwärtigen Parteiführung unzufrieden ist. Aber aus welchen unkontrollierbaren Quellen speist sich diese Unzufriedenheit? Und was macht eine Partei, wenn sie eines Tages gewahr wird, daf; ihre Mitglieder auf die höchsten Funktionäre, Minister und Gewerkschaftsvorsitzende, mit Brachialgewalt losgehen? Diese und ähnliche Fragen, die in diesen Tagen inner- und außerhalb der Partei von vielen gestellt wurden, hat der Entscheid des Ehrengerichtes und der Ausschluß Olahs aus der Partei noch keineswegs beantwortet.

DER TAG DES FINANZMINISTERS.

Was man schon längst wußte, ist am 28. Oktober allen endgültig klargeworden; Das „gewagte Experiment" des Bundeskanzlers ist als geglückt anzusehen; er hat einen „jungen Volkswirtschaftler", zu dem er ein persönliches Vertrauen hatte, als Finanzminisfer in sein Kabinett aufgenommen, und er hat jetzt einen versierten und, im Endergebnis, nicht einmal so „unpolitischen" Finanzminister. In seiner ersten Budgetrede im Nationalrat am 28. Oktober hat Finanzminister Dr. Schmitz wieder den „sachlichen Arbeitsstil’ betont, In dem das Budget 1965 erarbeitet wurde, und der Hoffnung Ausdruck gegeben, daf;, wenn dieser Stil innerhalb der Regierung fortgesetzt werden könne, es auch möglich sein werde, noch manches verlorene Terrain wiederzugewinnen. Die Beharrlichkeit des Finanzministers, mit der er seinen „neuen Stil der Sachlichkeit" bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund stellt, hat ihm schon die schmunzelnde Kritik eingetragen, Politik sei eben mehr als nur Sachlichkeit. Man vergaß dabei, daf; auch diese ständige Betonung der Sachlichkeit Politik sein kann, mit der man sogar, wie das Beispiel zeigt, recht gut weiferkommt. Das Budget, das von der Regierung somit termingerecht eingebracht wurde, ist kein Muster für Studenten der Volkswirtschaftslehre, es ist aber, nach der Meinung auch vieler Fachleute, ein brauchbares Instrument, mit dem die für das Jahr 1965 zu erwartende Hochkonjunktur im Lohn- und Preissektor im Zaum gehalten werden kann — wenn der sachliche Stil beibehalten wird.

DER ZUG IN DIE FERNE. Im Jahr 1963 konnte die österreichische Fremden- verkehrswirfschatt die imponierende Zahl von 56,235.193 Übernachtungen registrieren. Davon entfielen tast 38 Millionen Nächtigungen aut Gäste aus dem Ausland und etwa mehr als 18 Millionen auf Österreicher. Mehr als doppelt so viele Fremde als Inländer haben also österreichische Kurorte, Sommerfrischen, Wintersporlplätze, Städte und Landgemeinden besucht. Während die Zahl der Ausländerübernachtungen von 1962 bis 1963 um fast genau 2 Millionen gestiegen ist, haben sich die Inländerübernachtungen um sage und schreibe 18.740 — verringert! Das bedeutet, daf; die gesamte Zunahme des österreichischen Fremdenverkehrs von 1962 aut 1963 dem Aus- fänderzustrom zu verdanken war. Die Österreicher haben dazu nichts beigetragen, im Gegenteil, sie haben mehr als je zuvor ihr Geld ins Ausland getragen. Auch das geht aus der Statistik klar hervor. 1962 mußten für Auslandsreisen der Österreicher Devisen im Wert von rund 1,9 Milliarden ausgegeben werden, 1963 wies die Reisebilanz bereits Devisen- ausgänge von mehr als 2,8 Milliarden Schilling auf. Die statistischen Zahlen des Jahres 1964 werden, wie man befürchten muß, kaum sehr viel günstiger aussehen. Dabei verdient die österreichische Fremdenverkehrswirtschaft von heute diese wenig schmeichelhafte Beurteilung in keinem Punkt, der ihr vorgeworfen wird.

Im gleichen Tempo, in der unsere gesamte Wirtschaft modernisiert, rationalisiert und in jeder Beziehung dem internationalen Standard angeglichen wurde, haben auch Gemeinden, Hotels, Gaststätten und Verkehrsunternehmungen das Menschenmögliche getan

STICHWORT MITTELEUROPA. Der

Staatsbesuch, den der österreichische Außenminister zusammen mit dem Staatssekretär im Burvdesmini- sterium für Auswärtige Angelegenheiten sowie hohen Beamten mehrerer Ministerien im östlichen Nachbarland absolviert hat, war nicht arm an überraschenden Akzenten, die, alles in allem, die Atmosphäre, in der Politik gemacht wird, merklich veränderten. Hier sei nicht von der sprichwörtlichen Gastfreundschaft der Ungarn die Rede, denn allein die Tatsache, daß dieser Besuch gerade jetzt, wenige Zeit nach der Entfernung Chruschtschows von der Spitze der Sowjetmacht, stattgefunden hat, mochte für dessen Freund, Jónos Kádár, Grund genug sein, um an dem Beispiel dieses Besuches eine gewisse Eingeständigkeit der ungarischen Außenpolitik nach außenhin zu dokumentieren. Also die betonte Herzlichkeit gehörte selbstverständlich auch zur Politik. Mit Interesse, ja geradezu mit Staunen wurde österreichischerseits ein anderes Phänomen registriert, nämlich, daß der Begriff Mitteleuropa in diesen Tagen „eine Renaissance erlebt" habe (Worte von Außenminister Kreisky). Der Ursprung cíes Begriffes Mitteleuropa wäre einer eigenen historischen Abhandlung wert. Hier hat er eine Deutung erfahren, die einer langsamen Evolution der Dinge im Donauraum gewiß nur nützlich sein kann. Im übrigen ist es gewiß richtig, wenn man einiges von dem, was man sich von einer Normalisierung der Kontakte zwischen Österreich und Ungarn erhofft, dem Faktor Zeit anvertraut. Mit der Wegräumung der Stacheldrahtgrenze sollten freilich die Ungarn nicht zu lange zuwarten, wenn sie weiterhin glaubwürdig bleiben wollen. Einen besonderen Akzent setzte schließlich Staatssekretär Boble- ter, als er während d’er Budapester Tage auch den neuernannten Erzbischof von Kalocsa, Hamvas, besuchte und ihm die Grüße der österreichischen Katholiken überbrachte.

DER WEHRBEAUFTRAGTE DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES, Vizeadmiral Heye, hat nach einem heftigen Angriff, den der Vizepräsident des Bundestages, Dr. Richard Jäger (CSU), gegen ihn geführt hatte, seinen Rücktritt erklärt. Heye hatte vor einigen Monaten von sich reden gemacht, als er, gleichzeitig mit der Überreichung seines Jahresberichtes an den Bundestag, In der Illustrierten „Quick" einen Artikel veröffentlichte, der als heftiger Angriff auf die Bundeswehr und als scharfe Kritik am Bundestag empfunden wurde. Zwischen dem amtlichen Bericht und der Presseveröffenflichung des Wehrbeauftragten ergaben sich beachtliche Widersprüche. Obwohl die Opposition, der Heyes Angriffe um so mehr willkommen waren, als er früher Abgeordneter der CDU gewesen war, den Admiral unterstützte, sah er sich genötigt, einen längeren Erholungsurlaub anzutreten. Aus diesem Urlaub zurückgekehrf, setzte er seine Pressekampagne fort und ging so weit, die Abschaffung der Wehrpflicht und die Schaffung eines Berufsheeres zu empfehlen. Im Rahmen einer wehrpolitischen Tagung der CSU bezeichnefe Dr. Jäger Heyes Vorschläge als „Quacksalberei" und wies auf den Widerspruch zwischen Heyes Behauptung, die Bundeswehr entwickle sich zu einem „Sfaat im Staate", und der Forderung nach Errichtung eines Berufsheeres hin. Die CSU forderte daraufhin Heyes Rücktritt. Er gab der Forderung statt und motivierte den Rücktritt mit der Erklärung, er sei zu alt, um sich noch in die seinem Amt gezogenen Grenzen fügen zu können.

CHRUSCHTSCHOW UND DER NEUE KURS. Die 29 und mehr „Sünden", die man jüngst in Moskau parteiamf- licherseits dem gestürzten Partei- und Regierungschef angekreidet haf, soll ein „vollständiges Sündenregister sein. Man machte sich ans Werk und ließ nichts der Zeit übrig, wie dies noch der Dilettant Chruschtschow tat, der die Sündenlisfe Stalins erst ratenweise den staunenden Genossen anvertraufe. Als Punkt 1 gilt, laut Pressemeldungen, die Feststellung, wonach Chruschtschows Politik China gegenüber „nicht richtig" gewesen sei. Die übrigen Vorwürfe — Personenkult, falsche Politik in der Landwirtschaft und dergleichen — sind Leerformeln, mit denen nur dialektisch denkende Funktionäre etwas anfangen können. Die Chinapolitik — das isf etwas Ernstes. Man kann gespannt darauf sein, wie die Nachfolger damit an den Rand kommen.

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