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DER MENSCH UND DER APPARAT. Franz Olah stellte sich vor dem letzten Wochenende der Presse. Nachdem er vor mehr als 200 Journalisten, die auf „Enthüllungen" warteten, erklärt hatte, er wolle nicht „klagen, Mitleid erwecken, schimpfen, über andere herziehen", hat er dann doch mit seinem fünfviertelstündigen Monolog erreicht, daß man mit dem Menschen, der in das Räderwerk des Apparates geriet und dort zermalmt wurde, Mitleid haben mußte. „Ich bin eine Einmannfraktion, ein Einzelner, Einzelgänger, Obdachloser, mein Büro ist meine Wohnung " Wäre er Gewerkschaftspräsident geblieben, hätte man seine „Formalfehler" nachträglich gerne sanktioniert, meinte er. Und wäre er nicht überzeugt gewesen, daß alles in Ordnung sei, wäre er dann zurückgefreten, hätte er ein Ehrengericht beantragt? „Ich habe auf die Würdigung meiner Zielsetzungen und Absichten gehofft." Was die der FPO gegebene Million betrifft, die anderen haben später noch viel mehr gegeben Olah war aber leichtsinnig. Er ist aus der Reihe getanzt. Er hat den Apparat weit hinter sich gelassen, und das rächte sich jetzt. Er hat sich den Spielregeln in der SPÖ nicht unterworfen. Aber welchen Spielregeln? Der Parfeivorsitzende versucht jetzt, eine Art Vademecum für brave Sozialisten zu fabrizieren: „Ein sozialistischer Funktionär, der für seine Handlungen die offene Zustimmung des politischen Gegners erntet, ist bereits auf dem Weg, sich von der Partei zu entfernen. Wer hingegen von dem politischen Gegner getadelt wird, ist auf dem richtigen sozialistischen Weg " Diese Doktrin ist mörderisch, ihre Verwirklichung müßte zum Chaos und zu Ruinen führen. Wird ietzt der Apparat darauf umgestellt?

MIT AUSSICHT AUF DIE STRASSE. Mannhaft hat die SPÖ dem Druck der Demonstranten widerstanden, die vor zwei Wochen vor dem Sitz der obersten Parteiführung ange- trefen waren, um für Olah zu kämpfen. Die Partei könne sich, sagte Doktor Pitfermann — und fand dafür die Zustimmung nicht nur des Bundeskanzlers, sondern aller rechtlich Denkenden im Lande —, nicht von der Gasse ihre Entscheidungen diktieren lassen. Das eindeutige Bekenntnis zu einem dem Rechtsstaat immanenten Gesetz rief zwar bei manchem Zeitgenossen, der sich früherer Geschehnisse erinnert, gewisse Zweifel hervor, wurde aber um so mehr als ein Zugeständnis an die bessere Einsicht begrüßt. Wenige Tage nach der Demonstration gegen die Führung der SPÖ marschierten, nur einige hundert Meter vom Tatort entfernt, abermals Demonstranten auf. Diesmal wurde freilich nicht die SPÖ, sondern die Bundesregierung unter Druck gesetzt und der Vizekanzler gegen den Finanzminister gestützt. In dem proporzgeteilten Österreich gibt es also auch in der Frage der Zuständigkeit von Demonstranten zweierlei Recht: Die SPÖ braucht sich der Gasse nicht zu fügen, auch wenn es sich um eine Sache handelt, von der die Demonstranten insofern etwas verstehen, als ihr Herz mifspricht. Die Bundesregierung, will sagen, ihre von der ÖVP gestellte Halbmannschaff, soll sich der Straße fügen, auch wenn die Demonstranten auaenscheinlich schlecht unterrichtet sind und sich vielleicht mit dem Problem nicht recht auskennen, weil sie sonst ia nicht gegen einen eventuell vorteilhafteren Verkauf der ÖROP demonstrieren, sondern sich saaen müßten, daß der Vorteil des Fiskus sehr wahrscheinlich auch der Vorteil der Arbeiter, ein schlechtes Geschäft für den Staat kein gutes für die Staatsbürger sein werde.

IM FLUGZEUG UBER INNSBRUCK. Heftigen — berechtigten — österreichischen Protest löste der demonstrative Flugzetfelabwurf italienischer Neofaschisfen über Tirols Hauptstadt aus. Der Abwurf war zunächst für den 4. November, den Jahrestag des großen italienischen „Sieges" von Vittorio Veneto, gedacht, wurde dann allerdings wegen Schlechfwefters verschoben. Auch Helden schätzen eben nicht Kälte und Regen Rufe nach Fliegerabwehr und militärischem Einsatz blieben glücklicherweise ungehört. Denn es hieße doch mit Kanonen auf Spatzen schießen, setzte man Krieasmacht gegen das klapprige Mailänder Sportflugzeug ein. Ebensowenig neu wie originell freilich ist die Idee zu dieser seltsamen Luffdemonstrafion: Vor fast einem halben Jahrhundert, im Sommer 1918, drehte Italiens Modedichter, Frauen- und späterer Nationalheld Gabriele d'Annunzio, eine Schleife um den Stephansturm in Wien, etliche Flugzettel mit glühenden patriotischen Worten abwerfend. Und flog dgnn unbehelligt zurück auf italienisches Gebiet. Damals d'Annunzio, heute die Enkel der alten „Auf-Roml’-Mar- schierer. Gleichgeblieben die poli

tische Propaganda als Waffe, aus dem Risorgimentomuseum entliehen.

ADENAUER RETTER EUROPAS! Als Privatmann ist Konrad Adenauer nach Paris gereist, um eine der größten Ehrungen enfgegenzunehmen, die das geistige Frankreich zu vergeben hat: er wurde in die Akademie der politischen und moralischen Wissenschaften aufgenommen. Seine Verdienste um die deutsch-französische Verständigung wurden als unmittelbare Begründung der Ehrung angeführt. Der greise Staatsmann, der sein Lebenswerk, eben die Begründung der deutsch-französischen Freundschaft, durch die Politik seines Nachfolgers gefährdet sieht, kam aber auch als Botschafter des guten Willens (und als Vorsitzender der CDU, der er noch immer ist), um in persönlichem Gespräch mit Staatspräsident de Gaulle den drohenden Bruch zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern, einen Bruch, der notwendig auch das Ende der europäischen Gemeinschaften und — auf unabsehbare Zeit — die Vertagung der politischen Einigung Europas bedeuten würde. Adenauer ist, wie er nach seiner Rückkehr erklärte, befriedigt zurückgekehrt. Somit hätte der 89jährige Staatsmann, mit dessen Namen und Persönlichkeit sich die Wendung der deutschen Politik vom Nationalstaat zum europäischen Gedanken, vom Nationalismus zur Nüchternheit, von der „Erbfeindschaff" gegen Frankreich zur Idee der deutsch-französischen Union verbindet, Europa (und damit sein eigenes Land) nochmals gerettet? Diese Frage kann man noch nicht unbedingt bejahen. Während Adenauer im Flugzeug saß, wurde ein Interview mit Bundesaußenminister Schröder veröffentlicht, das nicht nur, wie deutsche Zeitungen schreiben, einen „Dolchstoß in Adenauers Rücken", sondern auch eine geradezu beleidigende Herausforderung Frankreichs und Charles de Gaulles enthält. Nach den ehedem in der internationalen Politik und Diplomatie herrschenden Usancen müßte sich die Bundesrepublik nunmehr eindeutig zwischen Frankreich und Gerhard Schröder entscheiden. Schröders Kopf wäre das symbolische Opfer, das auf dem Altar Europas dargebrachf werden müßte. Aber heute herrschen andere Bräuche. Vermutlich wird Schröder bleiben, und Adenauers kunstvolle Wundnahf wird bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit täppischer Hand wieder aufgerissen werden.

INTEGRATION, ADE! Die Genfer Konferenz der EFTA-Vertrefer mußte abgebrochen werden, nachdem die EFTA-Parfner Englands den britischen Handelsminister wegen der 15prozen- tigen Imporfbelasfung schwer angegriffen haben und dieser es vorzog, zu schweigen. Die betroffenen Länder, unter ihnen Österreich, unternehmen Schritte in London, es hagelt Proteste — während man, auf der anderen Seife, in Brüssel auf der Stelle tritt, seitdem Präsident de Gaulle den Austritt Frankreichs aus der EWG in Aussicht gestellt hat, falls man in der Frage des einheitlichen Gefreidepreises sich nicht einigt. Auch die Verhandlungen mit Österreich stagnieren. Sind Integrationsbestrebungen eine Utopie?

THRONWECHSEL IN LUXEMBURG. Großherzogin Charlotte von Luxemburg, die im Jahre 1919 ihre Schwester Adelhaid auf dem Throne gefolgt war, haf nach 45jähriger Regierung auf ihr Herrscherrechf verzichtet und zieht sich ins Privatleben zurück. Ihr Nachfolger, der 43jährige nunmehrige Großherzog Jean, hat ihr seif einigen Jahren bereits als Mitregent einen Teil der Lasten abgenommen, die sie zu fragen hatte. Er leistete nun vor dem Parlament den Eid auf die Verfassung. Die Geschichte Luxemburgs, das seit 1866 ein zeitweise von Frankreich, dann wieder von Deutschland begehrtes Streitobjekt zwischen den Großmächten war, beweist, daß ein sehr kleiner Staat, wenn er nur im Willen des Volkes verankert ist, auch schwere Zeiten überdauern und sogar im Zeitalter der übernationalen Gemeinschaften und sogar gerade durch diese, wie es bei Luxemburg als Vorort der Montanunion der Fall ist, seine Eigenstaatlichkeit wahren und seine internationale Bedeutung noch erhöhen kann. Mit den beiden anderen „Beneluxstaafen", mit Großbritannien und den skandinavischen Königreichen hat Luxemburg die monarchische Staafsform gemeinsam. Es sind bezeichnenderweise zugleich jene europäischen Staaten, in denen die demokratische Verfassung niemals ernsthaft gefährdet war und in denen die Sozialdemokratie seif Jahrzehnten regierende oder mif- reaierende Partei ist. In diesen beiden Beziehungen haben die Republiken Europas den weif stabileren Monarchien nichts zur Seife zu stellen.

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