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An den Raud geshrichen

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DIE NEBEL BLIEBEN DICHT. Wenn unsere Leser diese Nummer in Händen hallen, wird der Bundesparteifag der Österreichischen Volkspariei wahrscheinlich schon abgeschlossen sein. Dann wissen wir auch nicht nur den Namen des neuen Bundesobmannes, sondern auch die Zusammensetzung der neuen Bundesleitung. Bis zur Stunde aber ist es unmöglich den Bereich der Vermutungen und Kombinationen zu überschreiten. Die „Nebel in Klagenturt" („Furche" Nr. 35/31. August 1963) blieben bis zur letzten Stunde dicht. Wenn Minister a. D. Dr. Klaus ohne Zweifel mit hohen Chancen für die Obmannschaft der Partei nach Klagenfurt geht, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß er sich in einer Kampf- absfimmung mit Minister Drimmel wird messen müssen. Für Spannung ist diesmal jedenfalls gesorgt. Einen Höhepunkt der Diskussion vor dem Parteitag bildete ohne Zweifel die temperamentvolle Debatte zwischen Nationalratspräsidenten Maleta und Generalsekretär Withalm, die im Anschluß an einen sehr offenen Artikel des Präsidenten vor dem Forum nie- deröstereichischer Delegierter ausgetragen wurde.

DER TEMPEL IN WIEN. Am 12. September 1963 wurde der im November 1939 zerstörte Tempel der Wiener Juden in der Seitenstettengasse nach seiner Neugestaltung wieder geweiht. In Anwesenheit von Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche, der Bundesregierung und des Wiener Bürgermeisters fand dieser Akt statt: ein Meilenstein auf dem Wege des jüdischer Volkes durch die Wüste und die Brände der Jahrtausende. Das Wort der Heiligen Schrift im hebräischen Urtext, der Gesang der Psalmen: niemand von den Anwesenden, der es nicht zuvor wußte oder eben aus der Eröffnungsansprache erfuhr, hätte dies vermutet: die so ganz hebräisch klingende Musik zum 92. Psalm stammt von Franz Schubert, der sie seinem langjährigen Freunde, dem Kantor Salomon Sulzer widmete. Das ist ErJ innerung an eine vergangene Zeit freundnachbarlichen Zusammenlebens zwischen Christen und Juden in Wien. Zur Sache gehörte es, daß bei dieser Feier auch anderer Vergangenheiten gedacht wurde: der J.qß(hundeite der Ausschließung der Juden, der Verweigerung der Menschenrechte an diese älteren Brüder der Christen. Tafeln im Vorraum des Tempels erinnern an die im ersten Weltkrieg gefallenen Wiener Juden, erinnern an die Opfer der Verfolgung 1938 bis 1945. Die ernste und würdige Feier, die ihren Höhepunkt in der Einbringung der Thora-Rollen in die Bundeslade und in der Fesf- predigt des Oberrabbiners mit dem Leitmotiv, die jüdische Religion ist eine Religion der Liebe, hafte, klang dreifach aus: mit der österreichischen und israelischen Hymne und mit dem Kadisch, dem Gebet in der Todesstunde und für die Toten: Jesus von Nazareth hat es am Kreuze gebetet, unzählige Juden haben es auf ihrem Kreuzweg in den vergangenen Jahren gebetet. Der Tempel der Wiener Juden ist wieder geweiht: da steht er, ein Mahnmal nicht zuletzt für die nichtjüdische Bevölkerung dieser Stadt, dieses Landes: Gastrecht für die Fremden, Bürgerrecht für die Juden unseres Landes, und für beide dies zu leisten: Schutzpflicht.

HUNDSPEITSCHEI Die österreichischen Gerichte, genauer: die österreichischen Richter, stehen nicht wie die Gerichte und die Richter in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder im Kreuzteuer der politischen Diskussion. Seit den Tagen der Weimarer Republik hat man an Urteilen in deutschen Prozessen eine höchst einseitige, einem politischen Ungeist verbundene Tendenz feststellen können. Hierzulande stehen eher die Geschworenen zur Debatte; nicht nur im Murer-Prozeß. Hier und dort läßt jedoch ein Funke erkennen, was auch bei uns unter der Oberfläche’ verborgen sein kann. Am 5. September fand da in Wien im Grauen Haus ein Diebstahlprozeß statt. Ein Sudanese steht unter der Anklage, seinen Freund in Wien bestohlen zu haben. Der hochgewachsene Neger kann nur Arabisch. Die Übersetzung seiner Aussagen zieht sich hin, da ihn der Dolmetsch anscheinend’ nicht ganz versteht. Da meint der Vorsitzende des Gerichtes, laut „Neuem Österreich", mitten im Prozeß zum Verteidiger: „Sagen Sie ihm, er soll endlich die Wahrheit sagen. Besser wäre es, ihm zweimal mit der Hunds- peifsche drüberzuhauen, dann ginge es gleich schneller." Wir warten nun darauf, was das Bundesminisferium für Justiz in dieser Sache unternehmen wird. Hundspeitschenrezepte in österreichischen Gerichten. Wenn wir solches dulden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns ein widriger Wind in der Weltöffentlichkeit eines Tages, während einer Krise, ins Gesicht peitscht…

VIER NEGERKINDER. Amerikareisende der letzten Monate sind sich darüber einig, daß das eigentliche, alle bewegende Problem der Vereinigten Staaten heute keineswegs mehr, wie noch vor wenigen Jahren, der Ost- West-Gegensatz und auch nicht mehr — und das ist noch erstaunlicher — die Kuba- age ist, sondern das Rassenproblem beziehungsweise dessen noch nie gekannte Zuspitzung, für die die Kennedy-Administration verantwortlich zeichnet. Ihre erbitterten Gegner arbeiten mit allen Mitteln gegen den Versuch, das Selbstverständnis und die Lebensbedingungen einer großen Nation an diesem entscheidenden Punkt radikal zu ändern und es nicht mehr bei dem guten Zureden bewenden zu lassen. Der Sprengstoffanschlag auf die Baptisfenkirche von Birmingham im Staate Alabama, wobei vier kleine Negermädchen den Tod fanden, sowie die übrigen unerhörten Gewaltakte und Morde sind für die Gutgesinnten in Amerika und anderswo gewiß ein Fanal. Ob dieses Menetekel die Terroristen zur Umkehr zwingen wird, ist freilich mehr als zweifelhaft. Aber mit Terror dieser und ähnlicher Art pflegt der Lauf der Geschichte nicht aufgehallen zu werden.

EIN LETZTES MAL: CADENABBIA. Seif Jahren gehörte es zu den unvermeidlichen Anzeichen des Überganges vom Spätsommei in den Frühherbst, wenn der deutsche Bundeskanzler sein Domizil in Cadenabbia am Comersee aufschlug und sich dort fast ausschließlich dem sagenhaften Bocciaspiel widmete. Nur fast: denn die gründlichen Deutschen verlegten jedesmal halb Bonn dorthin, es wurden Kabel gelegt, Kurierdienste eingerichtet, und zuweilen vefsam- melte sich dort das Bundeskabinett oder zumindest der Rafgeberkreis. Auch diesmal, zum letztenmal wohl, war es nicht anders: aber es scheint, daß die früheren eher um Rat Suchenden diesmal wirkliche Ratgeber geworden sind. Bei der letzten Konferenz in Cadenabbia wurde keine „harte" Außenpolitik, sondern die elastischere Politik Schröders zur weiteren Richtlinie erklärt. Adenauer trat inzwischen seine Abschiedsreise an, die ihn zunächst nach Rom zu Papst Paul VI. führte.

EIN MYTHOS ENTSTEHT. Die neuen Staaten und noch mehr die neuen Nationen, wie die algerische Nation — nach Ansicht mancher Spötter noch immer eine Fiktion — zweifellos eine ist, pflegen nach Helden und Heldenepen mehr zu dursten als nach Luft, Arbeit, Wohlstand. Ihre Führer und „Chefideologen’ meinen offenbar, daß auf den Wellen der Emotionen letztere leichter zu erreichen sind. Niemand, der die Geschichte insbesondere Osfmitfeleuropas im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts kennt, wird über solche Vorstellungen den Kopf schütfeln. Nun erlebt aber die Welf in Algerien das Phänomen, daß dort die geschichtsbildende Kraft des Nationalismus nicht allein, sondern in Verbindung mit ganz bestimmten Rezepten eines „Sozialismus" auftritt, von dem man noch nicht sagen kann, welche realpolitischen Konsequenzen er nach sich ziehen wird. Ben Bella ist soeben — Kunststück, da er ja der einzige Kandidat war — mit großer Mehrheit zum ersten Präsidenten Algeriens gewählt worden. Er griff sofort mit harter Hand in die ohnehin längst angebahnte Entwicklung zum „Sozialismus" ein, mit Verstaafli- chungsmaßnahmen und anderem, was Kapitalflucht, Abwanderung von Fachkräften und ähnliches nach sich ziehen dürfte. Er wie seine Ratgeber verlassen sich aber auf die Geister, die sie zu rufen und zu beschwören nicht aufhören; alles weitere kommt schon von selbst, denken sie, und da haben sie nicht unrecht.

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