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An der Schwelle des groben Krieges

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Den Historikern waren aus den verschiedenen Aktenveröffentlichungen und Nachkriegsprozeßakten die Aussagen des ehemaligen Hohen Kommissars des Völkerbundes für die Freie Stadt Danzig, Prof. Carl J. Burckhardt, wichtige Hinweise zur Geschichte und Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges. Deshalb ist e* begrüßenswert, daß Prof. Burckhardt, nachdem die Hochflut der sogenannten „Memoiren“ abgeebbt scheint, sein Erinnerungswerk über die schwere Mission in Danzig vom Februar 1937 bis zum Kriegsausbruch erst jetzt abschloß. Er konnte nicht nur seine eigenen Erlebnisse auswerten, sondern unter Heranziehung der inzwischen erschienenen Aktenpublikationen aus britischen und deutschen Archiven und vor allem durch das Entgegenkommen des letzten Generalsekretärs des Völkerbundes, S. Lester, seine eigenen Berichte an den Völkerbund benützen, so daß die Erinnerung durch die exakte Kontrollmöglichkeit der Akten unterstützt wird, denn Burckhardts eigene Aufzeichnungen wurden mit wenigen, allerdings wichtigen Ausnahmen, bei seiner Vertreibung aus Danzig aus Sicherheitsgründen von ihm vernichtet.

Das Werk, überlegen in Sprache und Anordnung, ist das Bekenntnis eines großen Europäers über eine schwere, von ihm selbst gewählte Aufgabe, den Frieden in Europa in einem seiner gefährlichsten Brandherde zumindest solange wie möglich zu bewahren. Ein vergebliches Beginnen, denn die den Friedensengel vertrieben, waren stärker als der Schweizer Gelehrte, der den undankbaren Sprung vom Katheder in die Weltpolitik wagte. Was das Werk in den Ein-leitungskapiteln besonders auszeichnet, ist die breit angelegte und fundierte Schilderung des komplexen Danziger Problems ebenso wie des deutsch-polnischen Verhältnisses seit 1919, wo die gefährliche politische und militärische Situation nicht erst seit 193 3 bestand, sondern schon in der Zeit der Weimarer Republik mehrmals zu Explosionen hätte führen können.

Als Burckhardt als letzter Hoher Kommissar des Völkerbundes Danzig betrat, waren die Würfe] bereits gefallen, die Oppositionsparteien zurückgedrängt, die teilweise Übertragung reiöhsdeutscher Gesetze eingeleitet, darunter auch die Judengesetzgebung, deren Einführung Burckhardt erfolgreich verzögerte. Und, was nicht zu übersehen ist, selbst Polen war nicht mehr, daran interessiert,, den Völkerbund als Faktoj, iri“Danzig zu wissen. Noch reiften 1937 die Früchte defe-deutsch-'polnisdheW Nichtangriffspaktes, und selbst Männer wie Jozef Beck glaubten an eine Schaukelpolitik zwischen Rußland und Deutschland; vor allem glaubte besonders Beck an die eigene militärische Stärke, wofür eine Reihe von Gesprächen mit Burckhardt Zeugnis ablegt. Die Kräfte, denen Burckhardt gegenüberstand, verkörpern sich in zwei Personen, die er immer wieder meisterhaft zu charakterisieren versteht: der junge „Günstling“ Hitlers, der Gauleiter Forster, Sprachrohr seines Herrn und Meisters und doch zeitweise zu beeinflussen, vor allem dann, wenn

es gelang, von außen her etwa Görings Einfluß gegen ihn einzuschalten. Der Gegenspieler Forsters, Arthur Greiser, ist gemäßigter, verständnisvoller und doch entmachtet, da sein Konkurrent das Vertrauen Hitlers ausschließlich genoß. Von den Personen des Dramas, in dessen Mittelpunkt die „Entfesselung des zweiten Weltkrieges“ steht und nicht die im Verlauf der Handlung eigentlich immer nebensächlicher werdenden Probleme um Danzig, erweisen sich die friedensbereiten und -willigen Kräfte als zeitweise Mitspieler und Helfer bei Burckhardts Bemühungen. Dazu gehörte neben Göring auch der ostpreußisohe Gauleiter Koch, vor allem aber aus der Diplomatie Weizsäcker, dem Burckhardt ein meisterhaftes historisches Dokument widmet. Erschütternd Attolico: todkrank, ein europäischer Kavalier und doch getrieben vom Kriegswillen seines Duce, der vom Ruhm auf den Schlachtfeldern träumte. Aus den Aufzeichnungen, die gerettet wurden, ist das Gespräch mit Attolico vielleicht die wichtigste Aussage. Es ging um die mögliche Opposition in Deutschland und den Krieg, der unvermeidlich erschien:

„Das, was hinter der drohenden Katastrophe steht, sieht heute niemand, es gibt nur nationale Politik, der Völkerbund ist verfrüht entstanden und schon verbraucht, ein Völkerbund ohne die Vereinigten Staaten war nicht möglich, vielleicht ist der Nationalismus an seinem Scheitelpunkt angekommen und geht es nicht mehr weiter, aber er ist am Scheitelpunkt, und wissen Sie, er entspricht der Summe aller Egoismen, der Gruppen, der einzelnen, der Summe aller Geltungstriebe, er ist im Laufe der Entchristlichung der europäischen Welt so langsam entstanden wie eine Wetterlage, die sich lange vorbereitet und lange hält. Er sei eine Folge der Reformation, des Freiwerdens der Bibel, wird behauptet, aber in Frankreich, dem ersten nationalistisch scharf ausgeprägten Staat, ist er eine Folge der durch die Religionstrennung entstandenen gefährlichen Spannung, bei uns und in Deutschland sehr spät, eine Folge der Französischen Revolution und Napoleons, Ja, sehr spät, wir machen jetzt erst das 17. Jahrhundert durch, ihr .großes Jahrhundert' war ein faschistisches Jahrhundert.“

„Sie müssen — verzeihen Sie dieses laute Denken — Sie müssen mit diesem deutschen Kleinbürgernationalismus, mit dem hektischen Nationalismus der Polen wie mit zwei schweren Krankheiten rechnen. Hinter der Gefahr dieser Nationalismen aber steht noch eine viel schwerere, die niemand in vollem Ausmaß erkennt. Reden Sie Beck zu, er ist so klug wie eitel, kommt es zum Krieg, so ist auch er verloren, alle sind sie verloren, sagen Sie's ihm, Sie haben mehr Freiheit als ein alter Karrierediplomat.“ (S. 308 ff.) Als die Krise den Höhepunkt erreichte, am 11. August 1939, wurde Burckhardt über Vermittlung Forsters zu Hitler nach Berchtesgaden gebracht. In diesem Gespräch offenbarte der deutsche Reichskanzler seine letzten Absichten:

„Wenn ich Krieg zu führen habe, würde ich lieber heute als morgen Krieg führen.“ (S. 341.) „Ich habe keine romantischen Ziele. Ich habe keinen Wunsch, zu herrschen. Vor allem will ich vom Westen nichts, heute nicht und nicht morgen. Ich wünsche, nichts von den dichtbesiedelten Regionen der Welt. Hier suche ich nichts, und ein für allemal: gar nichts. All diese Ideen, die mir die Leute zuschreiben, sind Erfindungen. Aber ich muß freie Hand im Osten haben. Noch einmal: Es ist eine Frage des Getreides und des Hohes, die ich nur außerhalb Europas finden kann.“ (S. 342.) Bemerkenswert an diesem Gespräch ist auch, wie sehr die Besetzung der Resttschechoslowakei durch die ungeheuren Mengen an Kriegsmaterial die kriegerischen Entschlüsse Hitlers beflügelte. (Siehe dazu den ausgezeichneten, von vielen Historikern zu wenig beachteten Aufsatz von Fritz Wiener: „Ultima ratio regis.“ Ein Beitrag zur heereskundlichen Darstellung der schwersten Artillerie des deutschen Heeres im zweiten Weltkrieg. (In: „Feldgrau“, 7. Jahrgang 1959, Heft 6.) Was man aus diesen Untersuchungen über die Bedeutung des tschechoslowakischen Rüstungsbestandes erfahren kann, drückte Hitler so aus:

„Sie haben gar keine Vorstellung, wieviel Kriegsmaterial wir in der Tschechoslowakei gefunden haben. Es war überraschend, wir konnten kaum unseren Augen trauen, und alles in hervorragender Ordnung!“ (S. 343.) Als Burckhardt vergeblich immer wieder auf die Notwendigkeit des Friedens hinwies, sagte Hitler scheinbar nebenher:

„Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden. Ich brauche die Ukraine, damit man uns nicht wieder, wie im letzten Krieg, aushungern kann.“ (S. 34S.) Die Linien des zukünftigen Programms der Eroberungen waren in diesem Gespräch offen dargelegt, und in Zukunft wird es nicht mehr möglich sein, die Entstehung des zweiten Weltkrieges aus dem letzt-tangigen Problem Danzig her entschuldigen zu wollen. Als der deutsche Kreuzer „Schleswig-Holstein“ in der spannungsgeladenen Atmosphäre der letzten Tage des Friedens einen sogenannten Flottenbesuch in Danzig machte, machte der Kommandant dieses Kriegsschiffes bei einem Höflichkeitsbesuch im Hause des Hohen Kommissars eine Andeutung größter Tragweite: „Ich habe einen furchtbaren Auftrag, den ich vor meinem Gewissen nicht verantworten kann.“ Wenige Tage später donnerten die Breitseiten dieses Kreuzers gegen die polnischen Befestigungen an der Westerplatte und eröffneten den zweiten Weltkrieg.

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