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An die Macht gebeten

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Es ist jetzt gerade 65 Jahre her, daß sich jene Ereignisse abspielten, die schließlich zur Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler führten - zur Diktatur des Nationalsozialismus, zum Krieg, zur Zerstörung des deutschen Reichs, zum Tod von Millionen Menschen. Der 30. Jänner 1933 wurde und wird als „Tag der Machtergreifung” bezeichnet - es war keine, stellt der amerikanische Historiker Henry A. Turner fest: „Daß Hitler an die Macht gelangte, war alles andere als vorbestimmt. Das hätte praktisch bis zum letzten Moment vermieden werden können.”

Um die Jahreswende 1932/1933 orakelten die bürgerlichen Zeitungen der Weimarer Republik, daß die Gefahr des Nationalsozialismus vorbei sei. Die NSDAP hatte nach ihrem Wahlerfolg vom Sommer 1932 bereits im November einen schweren Rückschlag erlitten. Ihre Kassen waren leer, die Mitglieder murrten, die Wähler schwammen ab.

Reichspräsident Paul von Hinden-burg, Generalfeldmarschall des vergangenen Krieges - ihm attestiert Werner Maser volle Loyalität zur Republik, der nicht sein I Ierz gehörte -stand dem „böhmischen Gefreiten” mit Ablehnung gegenüber. Der

86jährige stand jedoch völlig unter dem Einfluß seines Sohnes Oskar, des gerade amtierenden Reichskanzlers Kurt von Schleicher - ebenfalls General und ehemaliger Reichswehrminister - und schließlich des eben erst abgetretenen Reichskanzlers Franz von Papen. Alle drei - die eifrig gegeneinander intrigierten - gedachten Hitler als Werkzeug zu benützen, um die verhaßte Linke zurückzudrängen und auf längere Sicht wieder die Monarchie zu installieren. Sie verrechneten sich.

Die Weimarer Republik befand sich seit 1930 in einer Sackgasse. Die Radikalen von links und rechts - KPÖ und NSDAP - verhinderten eine Mehrheit der Mittelparteien, mit der eine demokratische Regierung hätte arbeiten können. Seither regierte Reichskanzler Heinrich Brüning, seit Frühjahr 1932 Papen, mit Notverordnungen des Beichspräsidenten. Die Wirtschaftskrise verursachte Massenarbeitslosigkeit, und diese trieb Hitler die Wähler zu. Seit Juli 1932 war die NSDAP mit 37 Prozent der Stimmen die stärkste Partei im Reichstag.

Den ganzen Jänner über intrigierte und verhandelte Papen mit Gesinnungsgenossen des rechten Lagers, um eine Regierung unter Hitler zustande zubringen, in der deutschnationale Minister Hitler „einrahmen” sollten. „In zwei Monaten haben wir

Hitler in die Ecke gedrückt, daß er quietscht!”, hoffte Papen. Letzten Endes hat er, vor allem er, zurecht „der Steigbügelhalter” genannt, Hitler die Macht in die Hände gedrückt.

Gegen Mittag des 30. Jänner legte Hitler vor dem Reichspräsidenten den Amtseid auf die Weimarer Verfassung ab. Neben ihm saßen nur zwei Nationalsozialisten - Hermann Göring und Wilhelm Frick - im Kabinett. Die republikanischen Parteien, aber auch die ausländischen Kommentatoren nahmen dies zur Kenntnis. Sie hofften, Hindenburg würde Hitler im Zaum halten. „Der Austausch eines Kanzlers durch einen anderen war zu einem solch gewohnten Vorgang geworden, daß ein Großteil der Öffentlichkeit jegliches Interesse daran verloren hatte.” (Turner) Und der Korrespondent der Sunday Times stellte die Frage: „Haben ... Hindenburg und ... Papen Hitler in einen Käfig gesperrt, bevor sie ihm den Hals umdrehen, oder sitzen sie in dem Käfig?” Hitler hatte die Macht nicht ergriffen - sie war ihm von den Männern in den Schoß gelegt worden, in deren Händen damals das Schicksal Deutschlands lag, resümiert Turner.

Der Historiker soll im allgemeinen nicht fragen: Was wäre geworden, wenn ... Turner tut es trotzdem und kommt zur Antwort: Nur eine befristete Militärdiktatur hätte einen Ausweg aus der verfahrenen Lage finden können - das kleinere Übel gegenüber dem NS-Regime. Auch eine Militärdiktatur hätte wohl einen Krieg gegen Polen begonnen, um die Ostgrenzen von Versailles zu korrigieren, aber nicht mehr, sinniert er weiter. „Der letzte gefährliche Konfliktherd auf dem Kontinent wäre beseitigt gewesen, und Europa wäre nach jahrelangen politischen Spannungen vielleicht endlich zur Ruhe gekommen. Der Zweite Weltkrieg und seine Schrecken, darunter die Atombombe ... waren genauso wenig unausweichlich wie Hitlers Aufstieg zur Macht.” Aber man soll ja nicht fragen, was gewesen wäre, wenn ...

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