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An jedem zweiten Tag

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Die Inselgruppe wurde zum erstenmal im Oktober 1949 bekannt. Damals setzten zwei rotchinesische Divisionen auf Dschunken und Motorbooten über und landeten auf der Hauptinsel. Nach einem dreitägigen blutigen Kampf behaupteten sich die Verteidiger; über 7000 der Angreifer gerieten in Gefangenschaft, mehr noch mußten begraben werden. Zahlreiche Waffen und Ausrüstungsgegenstände waren für die Nationalchinesen, deren Bewaffnung damals noch zu wünschen übrig ließ, eine willkommene Beute. Mit jenen Oktobertagen begann die Insel ihren Eintritt in die ostasiatische Geschichte. Es folgten im Sommer 1950 ein Landungsversuch, im September 1954 ein fünftägiges Trommelfeuer, das sich vom 24. Juni bis zum 5. Juli 1957 wiederholte, und vor acht Jahren, als der damalige US-Präsi- dent Eisenhower die Inselgruppe besuchte, erlebte Quemoy einige seiner schlimmsten Tage: in drei Tagen und zwei Nächten explodierten fast

175.000 Granaten auf dem schmalen Eiland.

Aber nicht dies ist es, was die Insel berühmt gemacht hat, das Absonderliche an ihrer Situation ist vielmehr, daß seit Jahren an jedem zweiten Tag rotchinesisches Ge schützfeuer auf den Dörfern und der kleinen Hauptstadt „Quemoy-Stadt“ liegt. Nicht jede Ortschaft — fünf von ihnen kann man als größere Dörfer bezeichnen — ist an jedem Beschußtag den Granaten ausgesetzt, aber sie alle müssen damit rechnen, daß sie an jedem zweiten Tag getroffen werden können.

Es gibt eine seltsame Ausnahme bei dem Bombardement von Quemoy, an die sich die Angreifer bisher stets gehalten haben: Wenn die Chinesen einen Feiertag haben, wie im Jänner zu Neujahr, dann rechnen diese Feiertage nicht mit. Fällt ein Feiertag auf einen Tag, an dem Kriegszustand herrscht, dann herrscht Ruhe, und die Zählung wird unterbrochen. Die 60.000 Menschen, von denen rund 9000 in der Hauptstadt leben, haben sich daran gewöhnt, in ihrer Tageszeitung neben den übrigen Nachrichten auch die Meldungen zu beachten, in denen genau verzeichnet ist, wieviel Geschosse am vorangegangenen Tag explodiert sind.

Theater unter der Erde

In jahrelanger Arbeit haben die Verteidiger nicht nur an den Küsten Minensperren, Stolperdrähte, Stacheldrahtverhaue und Stellungen für schwere und leichte Maschinenwaffen angelegt, sie haben sich im wörtlichen Sinne auch in den Felsen hineingesprengt. Mag es draußen auch noch so heftig schießen, über 3000 Soldaten können gleichzeitig einer Theatervorstellung beiwohnen, weil sich die Bühne und der Theatersaal unter einem etwa 200 Meter hohen Berg befinden. Unter anderen Granitfelsen befinden sich Lazarettsäle, Kinoräume, Kantinen für Offiziere und Mannschaften, Schlafräume, elektrische Zentralen, Feuerleitstellen, gassichere Aufenthalts räume für Stabsangehörige, Rundfunkanlagen, über die noch zu sprechen sein wird, Feldküchen und Munitionsdepots. Nur der Friedhof, auf dem einige hundert der gefallenen Verteidiger ruhen, liegt im Freien. Für die Soldaten ist also gesorgt, wie aber steht es um die Zivilisten?

Einer der Zeugen, die am besten Auskunft über die Wandlung im Zivilschutz geben können, ist ausgerechnet der einzige Europäer, der auf dieser Insel wohnt: Pater Bernhard Druetto, ein Franziskaner aus Marseille, lebt schon seit 37 Jahren in China.

Der Zivilschutz

Dreimal hat der Pater seine bescheidene Kirche mit Hilfe einiger Getreuer selbst wieder aufbauen müssen. Die Bambustür wird von einem Blindgänger geschlossen gehalten. Zunächst war die Bevölkerung völlig auf sich allein gestellt. In den fünfziger Jahren hing die Überlebenschance davon ab, ob die bescheidenen Häuschen einen Keller besaßen, was in der Mehrzahl nicht der Fall war. Die Zivilisten konnten sich auch Löcher in ihren Gärten und Feldern graben, wenn sie dies für nötig befanden. Aber niemand war zunächst da, der ihr Wohl besonders im Auge hatte.

Inzwischen sind beträchtliche Fortschritte gemacht worden. Quemoy ist ein Beispiel dafür, was Selbstschutz auch ohne den Einsatz gewaltiger technischer Mittel erreichen kann. Entsprechend gering ist die Verlustrate der Zivilbevölkerung. Es ist eine Seltenheit, wenn die Zeitung melden muß, daß jemand verletzt oder getötet wurde.

Eine der ersten Voraussetzungen für den Schutz der Bevölkerung war die Wiederaufforstung. Etwa 40 Millionen Bäume sind im letzten Jahrzehnt angepflanzt worden. Sie dienen nicht nur der Bewässerung, sondern auch der Tarnung. Eine zweite Voraussetzung ist ein gut ausgebautes Straßensystem. Von den 350 Kilometern Straßen sind etwa 150 Kilometer heute asphaltiert oder zementiert.

Die nächste Voraussetzung war der Bau von über 80 Feuerschutzteichen, eine respektable Zahl, wenn man weiß, daß ein Teil der Ortschaften unmittelbar am Meer liegt. Dank der Armee, die vermutlich zumindest ebensoviele Soldaten auf der Inselgruppe stationiert hat, wie dort Zivilisten leben, wurden dann systematisch an allen Straßen Dek- kungsgräben gebaut.

Gute Taten der Pfadfinder

Die Hauptstützen des Ziviischutzes sind die Pfadfinder. Ihr Einsatz wird von den Zivilbehörden geregelt. Dem Präfdkten ist ein Verbindungsoffizier beigegeben, die Pfadfinder haben in den Schulen Bunker errichten hei len, gibt es doch immerhin etwa

11.000 Kinder, die in 27 Volksschulen unterrichtet werden. 98 Prozent der Jugend können lesen und schreiben. Rund 900 Buben und Mädel besuchen die einzige höhere Schule, die als Modellschule gilt. Die Betriebe unterhalten einen Selbstschutz. Außerdem gibt es eine Miliz deren Einsatz allerdings nicht unseren Vorstellungen eines zivilen Bevölkerungsschutzes entspricht, da sie auch als Boten in militärischen Angelegenheiten, also als Melder, verwendet werden können.

Presse und Radio

In eigenartiger Situation ist die „Chen-Chi-Chung-Hua Daily News“, die einzige Zeitung der Inseln, die eine Auflage von rund 6000 Exem plaren hat. An einem Tag arbeitet die Redaktion an der Oberfläche, am Beschußtag bezieht sie morgens einen Felsbunker, in dem auch die wertvolle Rotation untergebracht ist. Hier wird bei elektrischem Licht gearbeitet. Unnötig zu sagen, daß auf dieser Insel alle Telephonleitungen unterirdisch verlegt sind.

Auch die Rundfunkstation, die bis zur Mandschurei auf dem rotchinesischen Festland gehört werden kann, hat zwei verschiedene Studios, das für die Beschußtage ist mit militärischen Nachrichtendienststellen gekoppelt. Das Senderpersonal ist stolz darauf, daß es seit Jänner 1954, damals nahm der Sender seinen Betrieb auf, noch niemals seine täglichen Sendungen einstellen mußte. Dazu hat beigetragen, daß es mehr-

rere Sendetürme gibt, die im Bedarfsfall einspringen können.

Das unangenehmste für die Zivilbevölkerung ist, daß sie niemals weiß, wann der Beschuß einsetzt, sie kennt nur die Tage. Sie muß sich deshalb auch an Kampftagen häufig außerhalb der Schutzräume aufhalten, nur vermeidet sie, wenn es sich machen läßt, die Feldarbeit. Der Beschuß kann am Abend, am Morgen oder mit sporadischen Feuerüberfällen über den ganzen Tag Vorkommen. Die Haltung der Bevölkerung ist vorbildlich. Das ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl, das. die Chinesen auszeichnet, aber auch der Optimismus, man werde die Heimaterde verteidigen und nicht vertrieben werden, schenkt den Zivilisten auf der Insel Quemoy Zuversicht und Stärke.

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