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Anarchie in Kolumbien

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Kriminelle Elemente beherrschen die kolumbianische Hauptstadt Bogota in solchem Grade, daß sogar das Zentrum der Stadt ab 21 Uhr wie ausgestorben wirkt. Trotz des Risikos des Heimwegs geht „man“ noch ins Kino. Sonst wagen sich nur Auto-besitzer abends auf die Straße. Ein ausländischer Besucher, der kurz nach seiner Ankunft nachts das

größte Hotel ahnungslos verließ, um noch etwas Abendluft zu schnappen, wurde beraubt und durch einen Messerstich schwer verletzt. Ein junger Mann wurde am hellen Tage vor 50 Zeugen erstochen. Alle erklärten — aus Angst vor Rache — bei dem Untersuchungsrichter, nichts gesehen zu haben. Ein Elektriker und ein Arbeiter wurden ihrer bescheidenen Barschaft beraubt und ermordet. Autofahrer werden dringend gewarnt, die Armbanduhr am linken Arm zu tragen. Wenn sie ihn zum Winken aus dem Fenster herausstecken, wird die Uhr oft „abgeknackt“.

Man sieht kaum einen Polizisten. Der Polizeikommandant erklärte, ihm stünden — wie vor 20 Jahren — nur 25.000 Mann zur Verfügung — für jetzt 7 Millionen Kolumbianer. Aber diese Ziffern erklären nicht, warum nicht wenigstens das Zentrum der Hauptstadt wirksam bewacht wird. Freilich verdient ein Polizist nur den Gegenwert von ca. 1000 Schilling monatlich, wobei er noch für Wohnung und Essen allein sorgen muß. Die Gehälter werden noch dazu oft mit Verspätung gezahlt. Wenn er fällt, beträgt die Witwenpension 250 Schilling. Die Kriminellen knallen Polizisten und Soldaten am lau-

fenden Band ab. So wurden 500 Mann eingesetzt, um den bekannten Bandenführer Efrain Gonzalez, der von zwei Freundinnen angesichts der Belohnung von 100.000 kolumbianischen Pesos verraten worden war, zur Strecke zu bringen. Er verteidigte sjch in einem kleinen Steinhaus, das er zu einer Miniaturfestung verwandelt hatte, und erschoß

6 Mann, ehe ihn sein Schicksal ereilte. Der Präsident Leon Valencia verlieh den Gefallenen und den Kommandanten Orden. Die Partei des Exdiktators Rojas Pinillas setzte sich für den toten Massenmörder — wie vorher für den lebenden — ein.

Übrigens, man geht nicht ohne Revolver

Fast alle Männer tragen Revolver. Auch „die Damen der Gesellschaft“ lernen schießen. Zuweilen sieht man bei ihnen Tränengaspistolen in der Form von Füllfederhaltern. In Wohnvierteln werden „Verteidigungsgemeinschaften“ gebildet. Gemeinsam werden Wächter engagiert und bezahlt. Auch werden Telephone eingerichtet, mit denen jeder gleich alle alarmieren kann.

Die absolute Unsicherheit auf den Straßen zeigt eine Form des Terrors. Angedrohte und durchgeführte Entführungen stellen die zweite dar. 17jährige Schüler der Deutschen Schule in Bogota werden jetzt auch dann mit Omnibussen nach Hause gebracht, wenn sie nur acht Ecken entfernt wohnen. Viele Eltern sind telephonisch oder schriftlich mit der Entführung ihrer Kinder bedroht worden. Seitdem der Exminister und Millionär Harald Eder entführt und

tot aufgefunden wurde, während große Truppenaufgebote den entführten Gutsbesitzer und Industriellen Olivario Lara nicht finden können, zahlen viele — ohne Benachrichtigung der Polizei — das verlangte Lösegeld, um ihren Vater oder Sohn lebend wiederzusehen. Einer der reichsten Männer Kolumbiens, Martin Vargas, hat 4 Millionen kolumbianische Pesos Lösegeld auf den Tisch gelegt. Die Kriminellen sollen in 4 Monaten mit Entführungen und Banküberfällen etwa 65 Millionen Schilling erbeutet haben.

Bec röhle sind bestochene Richter

Viele wohlhabende ..Familien sch cken ihre Kinder auf ausländi-

sche Internate. Andere versuchen, ihre Werte flüssigzumachen. Sie ziehen nach den USA, Chile, Frankreich, aber auch nach Hamburg oder Berlin. „So schnell wie möglich weg“, hört man oft. „Können Sie Ihre Fabrik nicht verkaufen?“ — fragte ich einen Industriellen, der weg will... „Niemand will heute etwas kaufen ...“, sagte er. Dieser Terror in der Stadt ist nur möglich, weil Polizei und Gerichte versagen. Auf frischer Tat wird selten ein Krimineller gefaßt. Polizisten fehlen am Tatort. Das Publikum sieht weg, um nicht selbst erstochen zu werden. Strafgerichte arbeiten langsam. Die Richter sind oft bedroht, zuweilen auch bestochen. Deshalb sind jetzt im Rahmen des proklamierten Ausnahmerechts militärische Schnellgerichte — Kriegsgerichte, die nach einer mündlichen Verhandlung endgültig das Urteil fällen, — eingerichtet worden. Ob sie abschreckend wirken, bleibt abzuwarten.

Ein führender Geistlicher, Mon-signore Salcedo, sagte mir: „Wir leben in einer Anarchie ... und sind an der Endstation der Revolution. Alle Autorität ist zerstört. Außer dem Präsidenten gibt es eigentlich keine verfassungsmäßige Macht mehr. Wenn er durch eine Grippe oder eine Kugel außer Gefecht gesetzt wird, kann die Million Verelendeter, die im Süden der Stadt wohnt, wie Attilas Barbaren in sie einfallen.“ — Bogata hat dieses Schauspiel schon einmal erlebt. Während der panamerikanischen Konferenz 1948 wurde der liberale Führer EHezer Gaitan unter ungeklärten Umständen ermordet. Der „Mob“ setzte Bogota in Brand und plünderte. „Es sah aus wie Berlin nach den Bombardements“, — sagte ein Bekannter. Wortführer der Generalität versichern, daß das Heer jet*t den Aufruhr verhindern würde. Aber es sorgt nicht einmal jetzt für die Sicherheit in der Hauptstadt. Obwohl Bankräuber kürzlich bei ihrer Tat „Viva la revo-luciön“ riefen, fehlt zumindest jeder Beweis, daß die Herrschaft der Kriminellen über Bogota politische Ursachen hat.

Die Republik „Marquetalia“

Ganz anders ist die Situation auf dem Lande. Kolumbien war bis 1953 Schauplatz eines blutigen Bürgerkriegs, bei dem Liberale und Kommunisten gegen Konservative und

das Heer kämpften. Als sich Liberale und Konservative auf eine alternierende Regierungsführung einigten, weigerten sich kämpfende Gruppen, die Befriedungsaktion mitzumachen und sich der „Nationalen Front“ einzuordnen. Sie bildeten und beherrschten sogenannte „unabhängige Republiken“. Die bekannteste heißt „Marquetalia“, ist 17.000 km* groß und wird von „Tirofijo“ („Scharfschütze“) beherrscht, der sich für den kolumbianischen Fidel Castro hält. Da Heer begann die „Operation Marquetalia“ mit 16.000 Mann, moderner Artillerie und Flugzeugen. Es drang weit vor. Aber die Meldungen der Weltpresse über den Sieg des Heeres und den Tod Tirofijos waren falsch. Er konnte in der unwegsamen Berggegend ein Gebiet von 5000 km> halten.

Vor kurzem überfielen diese Freischärler das Dorf Inzä, ermordeten sechzehn Menschen, unter ihnen Soldaten, Nonnen, einen Vater mit drei Söhnen — und riefen die Bevölkerung auf den Marktplatz. Dort verteilten sie ein Plakat, nach dem „die erste Konferenz der Freischärler des Blocks Süd auf Grund ihres Wachstums und Prestiges 1965 zum Jahr der siegreichen Revolution“ proklamiert habe.

Kurz vorher wurde in einer der anderen Guerillazonen im SW des Landes, im Dpto. Santander, das Dorf Simacota überfallen. Die Freischärler trugen Uniformen wie die venezolanischen und nannten sich „Nationales Befreiungsheer“. Diese Gruppe soll aus Studenten der kommunistisch infiltrierten Industrieuniversität Bucaramanga bestehen, von denen einige kürzlich in Leipzig und Prag waren.

Obwohl die alten Banden zum großen Teil dezimiert und ihre Führer erschossen wurden, beherrschen zur Zeit noch etwa 45 Freischärlergruppen 8 Zonen vor allem Zentralkolumbiens, deren Gebiet in einer Distanz von etwa 250 km von Bogota beginnt.

Trotzdem die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking vorübergehend zu gewissen Spaltungen führte, scheint jetzt wieder Einigkeit in der Unterstützung der „Befreiungsfront“ eingetreten zu sein.

Chi Guavaras Erklärung, Kolumbien solle „das Südvietnam Lateinamerikas“ werden, beweist den Grad der Gefahr.

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