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Anden - Marxismus

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Das Bild des Kontinents hat sich über Nacht verändert. In Peru regiert General Velasco Alvarado, der mit großer Energie und persönlicher Integrität die Wirtschaftsstrukturen modernisiert. Durch die Agrarreform, die Nationalisierung der Rohstoffproduktion und ein Industriegesetz, das den Arbeitern zunächst Gewinnbeteiligung und im Laufe der Zeit das Mitbestimmungsrecht in den Betrieben gewährt, hat sich seine Regierung zum Vorkämpfer des sozialen Fortschritts in Lateinamerika gemacht. Dabei ist Velasco Alvarado nicht zur sozialistischen Gesellschaftsordnung übergegangen und zahlt auch für die enteigneten Werte an die von der Maßnahme betroffenen in- und ausländischen Unternehmen Entschädigung. In dieselbe Richtung tendiert das Regime des bolivianischen Generals Juan Jose Torres, dessen Stabilität ein unsicherer Faktor bleibt. Der rötliche Schatten breitet sich aber vor allem über Chile aus. Wie nach dem Siege Fidel Castros vor elf Jahren emigrieren die Kapitalisten. Man steht nach Visen und Flugkarten Schlange. In Buenos Aires ist kaum ein Hotelzimmer zu bekommen.

Allerade steht zwischen vielen Feuern. Durch das Abkommen, mit dem er sich die Stimmen der Christdemokraten im Parlament für seine definitive Wahl und auch die geplante Verfassungsänderung — zum Ein-Haus-Parlament, der „Volkskammer“ — gesichert hat, hat er sich verpflichtet, das demokratische Mehr-Parteien-System aufrechtzuerhalten, die freien Wahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit, die Autonomie der Universität usw. zu garantieren. Diese Verpflichtungen sind in Paragraphen gefaßt, die der Verfassung eingegliedert werden sollen. Diese gesetzgebende Arbeit kann bis zum vorgesehenen Amtsantritt Allendes am 4. November zwar eingeleitet, aber nicht durchgeführt werden. Die Christdemokraten vertrauen aber auf das Wort Allendes, ein weiterer Beweis dafür, wie viel sie ihm näher stehen als der Konservative Alessandri. Allende weigerte sich, das Heer als Garanten für die Einhaltung seiner Verpflichtungen zu bestellen. Auch bestand er auf dem Recht des Präsidenten, in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, auf die Beförderung und eventuelle Absetzung der Offiziere Einfluß zu nehmen. Die Christdemokraten haben also zwar eine formelle, aber keine materielle Gewähr dagegen, daß Allende das Genülemen-Agreement nicht einhält und zur Volksdemokratie übergeht.

Nach den Erklärungen von Dr. Pedro Vuscovic, der aller Wahrscheinlichkeit sein Wirtschaftsminister wird, sollen die großen Kupfer-, Salpeter, Eisen- und Steinkohlenminen, die Elektrizitätserzeugung, Flug- und Schiffahrtsgesellschaften, Schwerindustrie, Petrochemie, Zellulose-und Papierfabrikation, sowie die Förderung, Raffinierung und Verteilung des Erdöls, nationalisiert werden. Auch soll das Bank- und Versicherungswesen, sowie der Außenhandel verstaatlicht werden. Wie aus einem Interview der uruguayischen Wochenschrift „Marcha“ mit dem chilenischen Kommunistenführer Luis Corvalän hervorgeht, will die Allende-Regierung hierbei langsam vorgehen, mit den Betroffenen verhandeln und ihnen Entschädigung leisten. Auf der anderen Seite hat Allende keinen Zweifel daran gelassen, daß er ein Ausbluten der Wirtschaft durch Transfer verhindern wird. Er erklärte, daß bisher das Auslandskapital für , jeden Dollar, den es investiert habe, dem Lande drei Dollar entzogen habe. Nach seiner Auffassung verschlingt der Transfer von Gewinnen, Dividenden und Zinsen die Hälfte der gesamten Exporteinnahmen des Landes. Von der erwarteten Nationalisierung wären die Vereinigten Staaten am meisten betroffen. Ihre Investitionen in Chile nähern sich einer Milliarde Dollar, von der nur etwa ein Drittel gegen Enteignung versichert ist. Die Reaktion aus Washington läßt sich mit Besorgnis und vorsichtigem Abwarten kennzeichnen. Denn auch wirtschaftliche Repressalien gegen Chile kommen kaum in Frage. 70 Prozent des chilenischen Exportes besteht aus Kupfer, von dem die Vereinigten Staaten nur einen Bruchteil aufnehmen. Auch auf die Gestaltung des Kupferpreises können sie nur geringen Einfluß nehmen, weil dieser von einem übernationalen „Kupfer-Rat“ mit Sitz in Paris, gebildet aus Chile, Peru, Kongo und Zambia, festgelegt wird. (Diese vier Staaten kontrollieren die Kupferexporte der Welt.) Dagegen könnten die Vereinigten Staaten die Entwicklungshilfe sperren. (Für 1971 sind für sie 20 Millionen Dollar und 2,9 Millionen Dollar für technische Hilfe eingeplant.)

Die Allende-Regierung wird die Annahme der Dollar nicht ablehnen. Schon daraus ergibt sich, daß ihr anti-nordamerikanischer Kurs gemäßigt ist.

Kontakt mit Kuba Da Allende erklärt, daß er die Beziehungen zu allen Staaten der Welt aufnehmen wird, ist ein kubanischer Botschafter in Santiago bald zu erwarten. Die Präsenz Rotchinas dürfte Washington und Moskau in gleicher Weise nur relativ stören. Allende hat in den letzten Wochen immer wieder die Gefahr eines Attentats gegen seine Person hervorgehoben. Es ist begreiflich, daß die Rechtsradikalen dem Aufstieg eines so profilierten Predigers des Marxismus, wie Allende es ist, Widerstand entgegensetzen. Um so erstaunlicher ist es aber, daß er auch seitens der Linksterroristen auf wachsende Feindschaft stößt. Die katholische Kirche wird durch den Machtwechsel begreiflicherweise beunruhigt. Frei war als Christdemokrat devoter Katholik, während Allende ein prominenter Freimaurer ist. Das chilenische Episkopat veröffentlichte eine Erklärung, nach der dag chilenische Volk „überstürzte, übermäßige und verfehlte Wandlungen“, sowie „eine Diktatur und eine zwangsweise ideologische Schulung“ fürchte. Aber im Gegensatz zur Situation in Brasilien, ist bezeichnenderweise in Chile kein Konflikt zwischen Staat und Kirche zu erwarten.

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