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AntiJudaismus schon in der Bibel?

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Gegen die wüste Flut des mörderischen Hasses stemmte sich in den Jahren der Verfolgung vor allem immer wieder ein Mann: Der Nuntius Roncalli bearbeitet von Istanbul aus Rom, er interveniert in Budapest, Bukarest, in der Slowakei, in Griechenland. Roncalli sieht die Aus-mordungen der Juden als „die sechs Millionen Kreuzigungen“ an (284). „Dos ist der mystische Leib Christi“, sagt Roncalli, als er in einer Wochenschau Aufnahmen der Toten und skelettierten Überlebenden im Lager Bergen-Belsen sieht. Zwei Jahre zuvor war die Enzyklika „Mystici corporis“ erschienen... (299).

Roncalli sieht Jesus als den Rabbi Jesus (302). Der Papst Johannes XXIII. wagt es als erster, über den Schatten der eineinhalbtausendjährigen Haßmauer zu schreiten. „Geschichtslogisch richtig“ trifft ihn selbst der Haß: kirchliche Organe, so eine deutsche Kirchenzeitung, sehen in seinem Tod die Hand Gottes wirken. „Bei den Begräbniszeremonien hörte man, wie ein Kurienkardinal sagte: ,Es wird vierzig Jahre dauern, um den Schaden zu heilen, den er angerichtet hat.' Und der Kollege mit Mitra neben ihm erwiderte: .Jetzt hat die Kirche zwei Gegenpäpste mit dem Namen Johannes XXIII.'“ (336).

Christus — das Ende Israels?

Haß, Haß, Haß. Woher stammt dieser Haß? Stammt er nicht doch aus den Evangelien? Mit dieser Frage befaßte sich eine Arbeitstagung für Exegeten in Arnoldshain im Taunus,

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erstmalig katholische, evangelische und jüdische Exegeten vereinigte und soeben unter dem Titel „Anti-judaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge“ erschienen ist.

Die letzten Sätze dieses Buches lauten (Zum Referat Golliöitzßr): „Zur ,Denkbuße' gerade der Christen gehöre die Anerkenntnis, daß Gott mit Seinem jüdischen Volk nicht die Wege gehen müsse, die die christliche Dogmatik, damit unermeßliche Schuld verursachend, ihm vorschreibe. Es gehe nicht mehr an, in Abwesenheit über die Juden zu reden.“

Der hervorragende Professor für Bibelwissenschaft an der Universita, Pontifkia Gregoriana, Rom, Norbert Lohflnk SJ, macht auf das heikle Problem aufmerksam: Da gegenwärtig die Bibel, das Neue Testament, immer mehr in die Hände der Gläubigen kommt, „muß man damit rechnen, daß mit wachsender katholischer Bibelbewegung diese Texte immer bekannter werden, daß ihnen der Durchschnittskatholik immer häufiger begegnet“. „Diese Texte“: Das sind die auf „die Juden“ bezüglichen Stellen bei den Synoptikern, vor allem bei Johannes, bei Paulus. Es kommt also sehr viel darauf an, wie die Kirche, wie die Theologen diese Stellen heute und morgen auslegen. Lohfink macht bedeutsame Vorschläge: Es gibt in der heutigen katholischen Dogmatik, wie sie gelehrt wird, weder einen Traktat über das Israel der biblischen Zeit noch gibt es in der systematischen Theologie einen Traktat über die theolo-

gische Einordnung des historisch gesehen parallel zum Christentum lebenden Judentums. Lohfink schlägt vor, daß an den katholischen theologischen Fakultäten im normalen Vorlesungsverzeichnis sowohl ein „trac-tatus de Judaeis postbiblicis“ wie auch ein „Tractatus theologicus de oeconomia Veteris Testamentl“, als normale Bestandteile des dogmatischen Kursprogramms in der theologischen Ausbildung aufgenommen werden. — Dies hätte eine außerordentliche, auch praktische Bedeutung: Eineinhalb Jahrtausende hatte man sich gewöhnt, mit der Erscheinung Jesu das Ende, das geschichtliche Ende Israels anzusetzen — seither hatte es kein Israel mehr zu geben, außer eben einige „verstockte Juden“, die als Sklaven, als servi, bis ans Ende der Tage für die Wahrheit ihrer Verfluchung zu erhalten seien... „Das wahre Israel“, die Kirche, hatte das ganze Alte Testament sich angeeignet: Die „gottlosen Juden“ hatten also sowohl ihre Heiligen Schriften wie ihr Recht auf geschichtliche Existenz — nach Jesus — verloren.

Pinchas Lapide nennt in seinem Buche „Rom und die Juden“ mehrfach den großen jüdischen Weisen Jules Isaac, der, erstmals 1949, durch Papst Pius XII. empfangen, wohl den von jüdischer Seite her entscheidendsten Einfluß auf das Wagnis des Papstes Johannes XXIII., eineinhalb Jahrtausende kirchlicher Traditionen zu verflüssigen, gehabt hat!

Das Evangelium: Frohbotschaft, nicht Drohbotschaft

Nun liegt das große Werk, das den Papst Johannes XXIII. so mächtig ergriffen hat, auch deutsch vor: Jules Isaac: „Jesus und Israel.“

1943, in der Verfolgung, versteckt in einem kleinen Orte in Frankreich begonnen, 1946 abgeschlossen, ist dieses Buch zunächst einmal dies: Das Zeugnis einer großen Liebe: Der Liebe eines Juden zu Jesus von Nazareth. Dieser Jesus von Nazareth ist mit tausend Wurzeln in der Frömmigkeit, im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe Israels eingewurzelt. Jules Isaac zeigt dies auf, indem er „einfach“ die Fülle der Verbindungen darstellt, in deren Mitte Jesus lebt. Jesus von Nazareth ist ganz unverständlich, wenn man dies nicht sieht: Wie jeder Atemzug, jedes Wort, jede Geste, jede Handlung, und nicht zuletzt dies — Sein Opfergang zum Kreuze — eingewurzelt sind in Glaubensweisen Seines Israel.

Dann demonstriert Jules Isaac materialreich dies: Wie nahe bis zum heutigen Tage, unbetroffen durch die „Ereignisse“ von 1933 bis 1945, erlauchteste Vertreter, vorwiegend einer französischen Theologie (Isaac hatte nur diese vor Augen), die alte Flutwelle des Hasses gegen Israel weitertragen. Jules Isaac war noch ein persönlicher Freund von Charles Piguy: Auf Peguy beruht der ganze große, strahlende Aufbruch einer neuen katholischen Geistigkeit und Spiritualität in der französischen Literatur im ersten Drittel unseres Jahrhunderts. Charles Peguy erschrak tödlich, in den Kämpfen um die Dreyfus-Affäre, wie da ein „katholisches Frankreich“ bereit war zum Pakt mit dem Teufel: Im Kampf gegen den „teuflischen Juden“. Peguy hat um die Seele Frankreichs gerungen. Jules Isaac, sein Freund, ringt um die Seele Israels und um die Seele der Christen. Johannes XXIII. hat in der Erfahrung der Passion 1938 bis 1945, dann in der Begegnung mit Jules Isaac die Chance wahrgenommen: Die römische Kirche aus sektenhafter Selbstverschlossenheit herauszuführen zu einer gottoffenen, menschoffenen, brüderlichen Gemeinschaft. Ihn behinderte nicht „ein übertriebenes Loyaliiitätsgefühl der eigenen Kirche gegenüber“, wie es zu Recht getadelt wird von dem General der Gesellschaft Jesu, Arrupe: In einer Ansprache am 18. April 1966 in New York vor einer Zuhörerschaft, der führende Rabbiner angehörten.

„Jesus und Israel“: Menschen, die es heute wagen, Jesus von Nazareth ernst zu nehmen, und nicht nur als ein Klischee zu verwenden für ihre Haßansprüche und Lebensängste, werden dieses Lebenswerk des Jules Isaac als Geburtshelfer erfahren: Für ein „neues Leben“, vita nuova. Menschen eines neuen Lebens sind allein fähig, das Evangelium als Frohbotschaft, nicht als Drohbotschaft darzuleben.

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