6693464-1962_48_01.jpg
Digital In Arbeit

Antikommunis-mus! Aber wie?

Werbung
Werbung
Werbung

Am 12. November 1890 hielt Kardinal Lavigerie, als Legat des Papstes Leo XIII., in Algier eine Rede, die einen Sturm der Entrüstung in Frankreich, im französischen Katholizismus, hervorrief. Hohe Offiziere sprachen ihn als „Hochverräter“ an; die royalisti-sche Presse, „Soleil“, ..Gaulois“, „Patrie“, „Francais“, „Moniteur“, blies Feuer in den Sturm der Entrüstung. Einige Jahre später halten — ein charakteristisches Mißverständnis jener Zeit — vornehme katholische Damen Novenen ab, Gebetsnovenen, um den baldigen Tod des „skandalösen Papstes“ Leo XIII. vom Himmel zu erbitten.

Was hatten die beiden verbrochen, dieser Papst und sein Sprecher, der Kardinal Lavigerie? Sie hatten etwas Furchtbares, Unerhörtes, Unmögliches getan: Sie hatten von der Kirche in Frankreich, vom französischen Episkopat und vom französischen Katholizismus die Preisgabe eines religiöspolitischen Dogmas verlangt, das genau einhundert Jahre die Achse der politischen Weltanschauung der überwiegenden Mehrheit der französischen Katholiken gebildet hatte.

Am 29. März 1790 hatte Papst Pius VI. feierlich die „Erklärung der Bürger- und Menschenrechte“, diese große Verfassungsproklamation der Französischen Revolution, verurteilt. Einhundert Jahre galt als unerschütterlicher, unantastbarer Grundsatz eines religiös-politischen Glaubensbekenntnisses, was de Bonald und de Maistre gelehrt hatten: „Alles ist falsch, teuflisch, satanisch, pervers“ an der Französischen Revolution, an der Republik.

Heroische Versuche einzelner kleiner Gruppen französischer Katholiken, gegen das religiös-politische Dogma von der „teuflischen Revolution“ und der „durch und durch perversen Republik“ anzukämpfen, wurden um 1832, um 1848, um 1870 mit allen Mitteln des Terrors niedergekämpft.

Am 16. Februar 1892 verlangt Papst Leo XIII. vom französischen Katholizismus ,,un ralliement loyal“, eine Versöhnung mit der Republik. In schwersten Auseinandersetzungen gelingt es seinem Vertreter in Frankreich, Lavigerie, den widerstrebenden Episkopat für die neue Politik des Papstes zu gewinnen. Der Kampf um den Sinn der französischen Revolution ist heute in Frankreich noch nicht zu Ende, wie nicht zuletzt ein Monitum des französischen Episkopats gegen eine katholische Zeitschrift und Bewegung, die an der absoluten Verteu-felung der Großen Revolution festhält, beweist.

„ ... an alle, die moderne Wege des Apostolats suchen“, wendet sich eine Schrift, die in einer Erstauflage von 30.000 Stück im Februar 1962 in Frankfurt erschien: „Ein Briefnoviziat — achtzehn Briefe an die Mitarbeiter der Aktion Pater Leppichs.“

„Der Kommunismus ist eine Irrlehre, die wir hassen. In seinem System arbeitet der Dämon der Teufelsclique. Nicht, als ob wir die westliche Welt heiligsprechen! Wir wollen auch nicht die NATO mit der Civitas Dei gleichsetzen. Wir wissen, daß das Reich des Satans nicht geographisch abzustecken ist. Aber im Osten ist die Lawine von Gotteslästerung, Verbrechen und Unheil so furchtbar, daß man darin Satans Werk sehen muß. Niemand, der ein Eremdenlegionär Satans ist, kann gleichzeitig ein Glied des Corpus Christi Mysticum sein.“

Einige Seiten später begegnen wir dem Satz: „Die Kommunisten sind irrende Brüder, die wir lieben.“ Vier Seiten weiter: „Unterstützen Sie antikommunistische Bestrebungen, auch wenn sie von nichtchristlicher Seite veranstaltet werden! (Allerdings kritisch bleiben!)“

Tn der September-Oktober-Nummer 1962 der „Civitas“, dei/ Zeitschrift des Schweizerischen Stitdentenvereins (der dem deutschen und österreichischen Cartellverband der farbentragenden katholischen Verbindungen entspricht), entwickelt Helmut Fleischer „Einige Gedanken über unsere Mitverantwortung für die Zukunft des Kommunismus“. Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag vor Mitgliedern der schweizerischen Ostkontaktkommission in Fri-bourg am 11. März 1962 zugrunde.

Der Schweizer katholische Konservative führt hier aus: Der Kommunismus „ist wesentlich ein dynamisches System, dessen Physiognomie sich auf Grund seiner eigenen Resultate wandelt, und ein offenes System, dessen Wirksamkeit nicht allein aus ihm selbst (seinem programmatischen Impuls, seiner historischen Tradition, seiner jeweils erreichten inneren Verfassung) zu begreifen ist, sondern auch aus der Konstellation und den direkten Einwirkungen seiner Umwelt mitkonstituiert ist“.

„Die Generalaufgabe, vor der wir in der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt heute stehen, sehe ich so: Es gilt, für den Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen einen neuen Stil zu finden, aus dem die“ Elemente der traditionellen zwischenstaatlichen Machtpolitik mehr und mehr verschwinden. Da ohnehin für jede konstruktive Weltpolitik heute der .apodiktische Imperativ' besteht, eine militärische Auseinandersetzung zwischen den großen Blöcken unter allen Umständen zu vermeiden, ist sowohl eine ungewöhnliche geistige Anstrengung als auch ein ausgedehntes institutionelles System notwendig, um die militärischen Fronten zu entlasten. Zu den geistigen Anstrengungen, die von uns gefordert sind, gehört vor allem, ein größtmögliches Maß an Einfühlung zu erlangen — was ein geradezu unermüdliches Ausfragen und Diskutieren voraussetzt.

Ein ganzes System intensiver Ostkontakte sollte eine breitere Grundlage für die Diagnose wie für die Einwirkung schaffen. Publizisten, Sozialwissenschaftler und Sozialphilosophen, Organisationspolitiker, Schriftsteller haben dabei einen besonders wichtigen Platz ...

Für gänzlich verfehlt halte ich die Spekulation auf einen .Zusammenbruch' des Kommunismus.“ Im Schlußteil seiner Ausführungen befaßt sich Fleischer mit der Frage einer „Reformation des Kommunismus“ und schließt: „Und ich glaube, daß es durchaus im Bereich unserer Möglichkeit und Verantwortung Hegt, eine Entwicklung in dieser Richtung zu ermutigen und zu fördern.“

Hier wird die Achse berührt: dieAchse einer fortschrittlichen, freiheitlichen Politik, einer Weltanschauung, die der Aufgaben und der Verantwortung des freien Menschen im 2 0. Jahrhundert bewußt ist!

„Unser“ Antibolschewismus (der sich schon in der Wortwahl entlarvt, indem er geflissentlich vom „Bolschewismus“ spricht, und mit diesem altbösen Scheltwort alle Erscheinungen des Kommunismus über einen Visier-, kämm anvisiert!) ist der Enkel der hundersiebzigj ährigen französischen Verteufelung der großen Revolution und ist der Sohn des vierzigjährigen deutsch-österreichischen „Antibolschewismus“ hitlerischer Prägung.

Antikommunismus einer freiheitlichen Welt ist: kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit den riesenhaften Phänomenen des dialektischen Materialismus, der Sowjetideologie heute, des Sowjethumanismus, des Weltkommunismüs in der Vielfalt seiner wirtschaftlichen, militärischen, gesellschaftlichen Erscheinungen.

Wer heute in dem geistig dumpfen, engen Wien lebt, in einem Österreich, das wieder von den schlechten Geistern von gestern und vorgestern zu wehren beginnt, mag sich tragisch berührt fühlen durch die Tatsache, daß etwa im westdeutschen Raum eine geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus von zwei geborenen Wienern angeführt wird: von dem Jesuiten Gustav Wetter und seinem jüngeren Freund Wolfgang Leonhard, dem bekannten Exkommunisten, der durch seine politische Konversion nicht ver-rückt, sondern aufgeklärt wurde. Diese beiden Exwiener haben in ihrer in Frankfurt im März 1962 gemeinsam herausgegebenen zweibändigen „Sowjetideologie heute“ eine gute e r s t e Einführung gegeben, In der ein gesunder Antikommunismus ansetzen kann.

In seinem Nachwort erklärt Wolfgang Leonhard: „Schon heute spannt sich ein weiter Bogen von den Reformkommunisten (in den verschiedenen Spielarten des .menschlichen Sozialismus', .pluralistischen Sozialismus' und .liberalen Sozialismus') über eine Reihe von Zwischenstufen bis zum Kommunismus sowjetischer Prägung und von dort über weitere Übergänge bis zum Kommunismus der Pekinger Richtung. Die Wandlungen in der Sowjetunion selbst und die zunehmende Differenzierung im Weltkommunismus verändern auch die Rolle der Sowjetideologie immer rascher: ...Immer deutlicher tritt daher in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten der Wunsch zutage, sich von den Fesseln der ideologischen Dogmatik zu befreien. In Kreisen der Wirtschaftler, Manager und Techniker wird vor allem der Wunsch nach wirtschaftlichen Sach- und Fachkenntnissen laut. Wissenschaftler und Künstler streben danach, die Isolierung zu durchbrechen und den Anschluß an die Wissenschaft und Kunst der Welt zu finden.“ „ .. . Dies aber schließt die Forderung nach grundsätzlichen Reformen der Sowjetgesellschaft ein. Immer häufiger wird die Forderung laut, die Probleme des Menschen und des menschlichen Glücks sowie die Freiheit der Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen.“

In seinem 1960 in München erschienenen Buch „Sowjethumanismus — Prämissen und. Maximen kommunistischer Pädagogik“ erläutert der katholische Philosoph Heinz Robert Schlette das Denken führender sowjetischer Pädagogen und hält am Werk des Moralphilosophen Schischkin fest: „Schischkin hat deutlich ausgesprochen, was in westlichen Darstellungen der marxistisch-leninistischen Theorie nicht selten übersehen wird, daß nämlich der Marxismus-Leninismus gerade auf Grund seiner eigenen Prinzipien durchaus veränderlich oder wandelbar ist.“

Hier wird ein besonders wichtiges Element für die Bildung eines gesunden Antikommunismus aufgezeigt: in völliger Unkenntnis der inneren Dynamik i m dialektischen Materialismus und im politischen Denken und gesellschaftlichen Wesen <Je<> Kommunismus sieht man in unseren Landstrichen in allen Reformen, Veränderungen, Entwicklungen etwa in der Sowjetunion nur ein listiges oder verzweifeltes Manöver Chruschtschows und anderer Parteibosse, um sich zu „retten“ oder um eben dem „Druck“ dieser oder jener äußeren und inneren Feinde nachzugeben oder ihn aufzufangen.

Ein gesunder Äntikommunismus weiß: es sind in Rußland, in den Ländern des Kommunismüs eine Fülle von Prozessen im Gange. Die Welt ist im Wandel, und niemand ist von diesem Wandel ausgenommen, kein Kommunist, kein Antikommunist. Beide sind füreinander verantwortlich, beide beeinflussen einander, negativ und positiv, unbewußt und bisweilen bewußt, tausendfältig.

Das weiß nicht zuletzt Papst Johannes XXIII. Nicht ganz so deutlich wie seinerzeit Leo XIII. von Katholiken kritisiert wurde, hat man heute in „guten“ katholischen Kreisen diesen Papst in zwei deutiger Freundlichkeit als „Johannes den Guten“ angesprochen und in eindeutiger Ablehnung ihm den Vorwurf gemacht, daß er in seinen Ansprachen „den freien Westen dem kommunistischen Osten gleichstellt, als ob sie beide die gleiche Schuld träfe“. Wir hoffen nicht, daß heute fromme Damen beiderlei Geschlechts für den baldigen Tod dieses „gefährlichen Papstes“ beten wie einst zu Lebzeiten Leos XIII. Die betroffene, bitter-saure Reaktion auf die Erklärung Monsignore Cardinale, des Chefs des Protokolls im vatikanischen Staatssekretariat am 23. November 1962 — der Vatikan ist bereit, diplomatische Beziehungen auch mit der Sowjetunion aufzunehmen — gibt zu denken.

Hundert Jahre nach der Französischen Revolution hat Papst Leo XIII. die Beziehungen der Kirche zu den Enkeln und Erben dieser Revolution aufgenommen. Fünfundvierzig Jahre nach der Oktoberrevolution beginnt die katholische Kirche, sich auf Beziehungen zu den Regierungen des Kommunismus vorzubereiten. Anlaß genug, die Lebensfragen des Kommunismus und des Äntikommunismus neu zu bedenken.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung