6768404-1968_44_03.jpg
Digital In Arbeit

Antipoden: Dr. Seipel und Dr. Bauer

Werbung
Werbung
Werbung

Das war also der Anfang. Was unmittelbar folgte, war wenig erfreulich. Hunger und Not der letzten Kriegs jahre verschärften sich im rasanten Tempo, und das Gespenst der Inflation, jenes wirtschaftspolitische Phänomen, das gerade die Ärmsten unter den Armen am meisten trifft, wurde harte Wirklichkeit. Dennoch mußte man weiterleben, und den führenden Männern dieser Zeit war eine Verantwortung überbürdet, deren Ausmaß und Tragfähigkeit grenzenlos war. Daß sie schafften, wozu sie berufen waren, ist die Ursache für die Verpflichtung der Generation von heute, ihrer nicht zu vergessen. Renner, Fink, Miklas, Dinghofer, Kunschak, Seitz seien als ihre Prominentesten für viele genannt.

Aber mit der Leistung, die von diesen Männern in den ersten republikanischen Jahren erbracht wurde, war die Existenz des jungen Staates noch nicht gesichert. Der Einrichtung der republikanischen Verwaltung und der Bekämpfung und Beseitigung der ärgsten und größten Not mußte der Übergang zu normalen Verhältnissen erst folgen. In dieser Zeit erstand dem österreichischen Volk die überragende Persönlichkeit eines Dr. Ignaz Seipel, dessen schwieriges und großes Sanierungswerk erst imstande war, diesen Übergang zu schaffen. Die Größe dieses Priesters und Staatsmannes wurde auch vom Gegner nicht bezweifelt. Wuchs sie doch nicht zuletzt aus der Notwendigkeit eines harten und scharfen Dialogs mit dem parteipolitischen Gegner. Darum ist neben die Person Seipels auch die seines großen Antipoden, Dr. Otto Bauer, zu stellen, der selbst Zeugnis für seine wirkliche, persönliche Größe ablegte, als er viele Jahre später an der Bahre Seipels seinen berühmt gewordenen Abschiedsartikel in der „Arbeiter-Zeitung“ schrieb.

Die Armeen der Parteien

Große Leidenschaften verklingen aber nicht rasch. Die Entwicklung der österreichischen Demokratie nahm zunächst jenen unheilvollen Gang, der durch den Appell an die Gewalt gekennzeichnet war; der Lebensnerv jeder Demokratie, das parteipolitische Argument, wurde gestützt und verschärft durch die Bewaffnung von Parteiarmeen, die sich nicht als demokratische Diskutanten, sondern als schier unversöhnliche Feinde gegenüberstanden. Es ist heute müßig, die alte Streitfrage wieder aufzuwerfen, wem der größere Teil der Schuld an dieser undemokratischen Entwicklung zuzumessen ist, wer früher da war, der Schutzbund oder der Heimatschutz, die Henne oder das Ei. Wichtiger ist es, festzustellen, daß in beiden Lagern echte Patrioten zu finden waren, die die Gefahr einer solchen Entwicklung klar erkannten, ohne sie bannen zu können. In dem Augenblick, da man das politische Argument, nicht für stark genug hält, sondern glaubt, an die Waffengewalt appellieren zu müssen, um die Argumentation durchzusetzen, hört die politische Vernunft in der Regel auf, maßgeblich zu sein. Daß aber überall positive Kräfte am Werke waren, dafür mag als Beweis gelten, daß es schon zwei Jahre nach dem Brand des Justizpalastes möglich war, gemeinsam eine Änderung, das heißt Verbesserung der Bundesverfassung durchzuführen.

Das System Dollfuß

Ebenso müßig ist es heute, den Vorgang in den ersten Märztagen 1933 zu untersuchen, der durch eine offensichtliche Kurzsehliußreaktion der Beteiligten zur Ausschaltung des Parlaments führte. Denn in dieser Zeit stand das Gespenst des deutschen Nationalsozialismus schon drohend am Himmel, und es ist verständlich, wenn die für die Republik damals verantwortlichen Männer alles versuchten, was in ihren Augen geeignet sein konnte, um diese tödliche Gefahr abzuwenden; und man war der ehrlichen Überzeugung, daß dies mit dem Parlament von damals nicht mehr möglich ssi'n könne.

Sicher ist auch, daß ein Parlament mit einer starken Regierungsmehrheit die Ereignisse von 1938 niemals hätte aufhalten können. Die Behauptung, daß das autoritäre System eines Engelbert Dollfuß Schuld am Einbruch des Nationalsozialismus in Österreich getragen habe, ist völlig widersinnig. Die Zuflucht zum autoritären System war, Engelbert Dollfuß hat es immer wieder betont, als unvermeidliche Abwehrmaßnahme gegen den Nationalsozialismus gedacht. Sie war in dieser Hinsicht eine ebenso untaugliche Maßnahme wie alles andere, was Staaten mit reiner Parteiendemokratie späterhin versuchten. Sie alle wurden nach einem lange vorbereiteten Konzept von den Militärstiefeln des deutschen Nationalsozialismus schließlich niedergetrampelt. Aber man mag nun zu dieser österreichischen Entwicklung zwischen 1933 und 1938 stehen, wie man will, eine Großtat darf Engelbert Dollfuß nicht abgestritten werden: die Wiedererwek- kung eines österreichischen Patriotismus! Sein wiederaufgenommener Ruf „Österreich über alles, wenn es nur will!“ war schließlich seit 1918 der erste Alarm österreichischer Wiederbesinnung, der 1945 seine Früchte getragen hat. Den Opfern aber, die Österreich dafür gebracht hat, dem Toten vom Februar und Juli 1934 und denen der Gefängnisse und Konzentrationslager der Okkupationszeit, gebührt die Ehrfurcht eines ganzen Volkes, das auf sein Land stolz ist.

Zusammenarbeit nach 1945

Aus dem gemeinsamen Erleben der sieben nationalsozialistischen Jahre erwuchs sodann die Kraft, das österreichische Vaterland wieder neu zu begründen. Es war daher nicht ein Wunder, sondern beinahe eine Selbstverständlichkeit für die Haltung der Männer aus der Zeit von 1918 — wiederum sind Renner, Kunschak und Seitz zu nennen — gemeinsam mit den erbitterten Gegnern der Zwischenkriegszeit Raab, Figl, Hurdes, Weinberger, Gleißner, Gorbach, Schärf, Körner, Jonas, Böhm, Hilmer und vielen anderen sich die Hand zum gemeinsamen Wiederaufbau zu reichen. Vielleicht ist es hier am Platze, noch einmal die Frage zu stellen, ob die Menschen aus der Geschichte lernen, denn hier ergibt sich die eindeutige Antwort, daß die Österreicher aus den Ereignissen der Zwischenkriegszeit gelernt haben! Das später oftmals geschmähte System der Koalitionsregierungen ist nicht nur aus dem Umstand zu erklären, daß Österreich damals ein besetztes Land war; es kann angenommen werden, daß sich die politischen Kräfte im Jahr 1945 zu gemeinsamer Arbeit auch dann zusammengefunden hätten, wenn es keine Besatzung gegeben hätte.

Die Folgezeit brachte die Früchte dieser Zusammenarbeit. Sie wuchsen parallel zur Entwicklung der demokratischen Staatsform, die auf die Existenz und das Wirken politischer Parteien nun einmal nicht verzichten kann. Und wie immer letzten Endes die Menschen es sind, die ihr Schicksal selbst schmieden müssen, so erwuchsen Österreich auch in dieser Zeit die Männer, die imstande waren, das österreichische Schicksal fest in ihre Hände zu nehmen. Leopold Figl, dieser unvergleichliche Politiker, der es verstand, die politische Diskussion auf internationalen Konferenzen mit der Tatkraft zu verbinden, die notwendig war, um, wenn es gerade sein mußte, für die hungernde Wiener Bevölkerung immer gerade noch rechtzeitig fünf Waggonladungen voll Erdäpfel zu organisieren; Oskar Helmer, der kluge Lenker jenes österreichischen Sicherheitsapparates, der damals noch weitgehend von kommunistischen Elementen durchsetzt war; Johann Böhm und Lois Weinberger als zielstrebige Begründer einer neuen sozialen Entwicklung; Reinhard Karnitz als wirtschaftspolitischer Steuermann, dem es gelang, der österreichischen Wirtschaft ihren gemessenen Anteil an der beginnenden Weltkonjunktur zu sichern, und viele, viele andere.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung