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Antlitz und Gewicht Europas

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Herr Schuman ist Lothringer. Das Wort Lothringen stammt von Lothar, dem Namen des ältesten Sohnes Karls des Großen; der im Vertrage von Verdun (843) den Landstreifen zwischen Rom und der Rheinmündung erhielt. Als historisches Symbol stellte dieser Landstreifen die Brücke zwischen zwei Zivilisationen dar, dem römischen Kaisertum der Antike und dem christlichen Kaisertum karolingischer Schöpfung. So wurde dieses Lotharische Erbe der Grundstock der neuen christlich-westlichen Zivilisation. Der große Riß, den diese erst durch dynastische, dann durch nationale Rivalitäten erlitt, vermochte niemals ihre innere und höhere Einheit zu zerstören. Er soll nun durch die Politik des Lothringers Schuman für immer geschlossen werden. Damit wird die nationale Zersplitterung Europas ihr Ende nehmen.

Diese Zersplitterung war die Ursache vieler blutiger Kriege und führte in einem solchen Maße zu einer fortschreitenden weltpolitischen Schwächung Europas, daß nach dem letzten Krieg zunächst der Eindruck vorherrschte, Europa habe aufgehört, eine politische Individualität zu sein. Es schien, als hätte es nur mehr die Wahl, ein Vorgebirge Eurasiens oder ein Glacis atlantischer Mächte zu werden. Im Herbst 1946 sagte Karl Jaspers bei den „Rencontres internationales“ in Genf, Europa werde entweder balkanisiert oder verschweizert werden. In dieser Stunde traten alle nationalen Gegensätze plötzlich in den Hintergrund.

Der französische Außenminister hat in der Rede, mit der er die Konferenz über den seinen Namen tragenden Plan eröffnete, die ganze Bedeutung des geschichtlichen Auftrags, dem er mit seinem weitblickenden Plane nachgekommen ist, mit den Worten umrissen: „Diese unsere Verhandlung kann nicht scheitern.“ Diejenigen, die glauben oder wünschen, der plötzliche Sturz der französischen Regierung werde unter seinem Schutt auch den Schuman-Plan begraben, werden, wie man hoffen darf, sich irren. So wahr es ist, daß Frankreich durch seine trostlose parteipolitische Zerworfenheit durch fast zwei Jahrzehnte immer wieder sich in historischen Augenblicken seiner und der europäischen Geschichte zu stummer Hilflosigkeit degradieren ließ, so ist es doch undenkbar, daß die große heroische Initiative, mit der in dem Schuman-Plan Frankreich an die Spitze der europäischen Nationen trat, sie aufrief zur Einigung und zu ihrer Befreiung aus lauernden großen Gefahren, in dem Krötenteich einer der vielen Pariser Regierungskrisen versickern könnte.

Mit der Sechsmächtekonferenz um den Schuman-Plan, die sich für Redaktionsarbeiten am Vertragsentwurf bis 3. Juli 1950 vertagt hat, vollzieht sich ein notwendiger historischer Vorgang. Es wäre nicht richtig, wenn man sagen wollte, die Konferenz habe die Aufgabe, den Fortbestand Europas zu beweisen. Daß diese Konferenz überhaupt möglich wurde, beweist an und für sich schon die Vitalität Europas. Jeder Versuch, diese europäische Initiative als einen Akt der Absonderung auszulegen, kann nur sektiererischer Feindseligkeit gegen den Begriff Europa entspringen. Wer an dem Werke, das mit der Schuman-Plan-Kon-ferenz in Angriff genommen ist, teilnimmt, gehört zu Europa,- wer sich ausschließt, gehört nicht zu Europa. Die Realität des Begriffes Europa ist historisch, geistesgeschichtlich, biologisch und selbst wirtschaftlich viel zu tief begründet, als daß die vorübergehende Tatsache, daß in der ersten Zeit nach dem Krieg ein großer Teil des Festlandes am Verhungern war und viele Millionen auf der Landstraße oder in Kellern lebten, das weltpolitische Gewicht Europas auf die Dauer in entscheidendem Ausmaß zu schmälern vermocht hätte. DieBevölkerung dieses Erdteils westlich des sogenannten Eisernen Vorhangs ist immerhin noch ungefähr doppelt so groß wie die Vereinigten Staaten und dreimal so groß wie die des europäischen Ostblocks, und der europäische Anteil an der Welt-nrorluktion von Kohle und Eisen bewegt sich zwischen einem Viertel und einem Drittel. Zu dem kommt der hohe Grad der Verbreitung gewerblicher und technischer Fähigkeiten in der europäischen Bevölkerung, wenn man schon darüber mit Schweigen hinweggehen will, daß die ganze christlich-westliche Zivilisation mit ihrer Kunst, Philosophie und Wissenschaft sowie die Ideen der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit europäischen Ursprungs sind.

Die Einigung über die Befugnisse der „unabhängigen überstaatlichen Körperschaft“, die sich nach Schumans Erklärung in einer Parteisitzung der MRP nur mit der Zusammenlegung der Kohlen- und Stahlproduktion und nicht mit Absatz und Verwertung zu befassen haben wird, bildet die vordringlichste Aufgabe der Pariser Konferenz. Nach der Denkschrift des Exekutivkomitees der britischen Labourpartei war es auch dieses nämliche Problem, das die grundsätzliche Festlegung der englischen Regierung auf den Schuman-Plan verhindert hat. Abgesehen von dem Prinzip der für die vorgeschlagene „hohe Autorität“ geforderten Überstaatlichkeit, das angeblich von allen Parteien in Großbritannien abgelehnt wird, lassen sich natürlich vom volkswirtschaftlichen Standpunkt etliche! Einwände gegen den Schumah-Plan erheben. Es wird — in erster Linie von der englischen Presse — auf die Verschiedenheit des Lebensstandards der europäischen Völker, auf die Tatsache, daß in dem einen Lande Vollbeschäftigung und in dem anderen eine nicht unbedeutende Arbeitslosigkeit herrscht, sowie auf die erfahrungsgemäß bestehenden Schwierigkeiten einer glatten Aufhebung der Zollschranken hingewiesen. Alle solche Bedenken, die sich ja nur auf eine Übergangsphase beziehen können, erscheinen aber dialektischer Natur im Lichte der ungeheuren Vorteile, welche die Durchführung des Planes für alle Länder auf weite Zukunft hinaus verbürgt.

Wie stark in diesem Zeitalter materialistische Überlegungen vorherrschen, zeigt die Wichtigkeit, die man diesen Nebenproblemen im Augenblick eines großen geschichtlichen Prozesses beizumessen sich bemüht. Das europäische Festland, geeint durch seine hohe, auf dem Christentum, dem hellenischen Persönlichkeitskult und den römischen Rechtsbegriffen beruhende Zivilisation sowie durch eine in den Kämpfen eines Jahrtausends geläuterte politische Tradition, sollte der Einigung durch einen Kohlen- und Stahlpool nicht gewachsen sein? Noch einmal wird jetzt aus allen mißgünstigen Lagern an die Unantastbarkeit nationaler Souveränität und an den Stolz nationaler Eigentümlichkeiten und Vorränge appelliert. Aber man kann schon heute voraussagen, daß all diese Argumente ins Leere gehen werden. Ja, das europäische Festland ist voll von Gegensätzen, aber wir haben gelernt, aus diesen Gegensätzen, die uns eine Zeitlang mit Verfall bedrohten, jetzt unsern Reichtum zu machen. Die Kraft des Europäers besteht darin, daß er der Konfliktsmensch des griechischen Dramas bleibt. Gerade in dieser Eigenschaft, indem er um die Überwindung dieser Konflikte mutig ringt, wird er an der Bewahrung der abendländischen Zivilisation und des Friedens wieder seinen Anteil nehmen.

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