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Es wäre völlig falsch, anzunehmen, daß das populäre Programm Chruschtschows, größere Freiheit und Steigerung des Lebensstandards, bei den Volksmassen Rußlands einhellige Begeisterung hervorruft. Das ist das Eigenartige an der russischen Mentalität, daß der Freiheitsdurst eines großen Teils der Russen gar nicht so groß ist, wie man sich das im Ausland vorstellt. Es besteht im russischen Volkscharakter so etwas wie eine Angst vor der Freiheit. Dazu kommt noch, daß am Zustand der Unfreiheit eine relativ breite Schicht profitiert oder zu profitieren glaubt. Es sind bald hundert Jahre her, daß die Leibeigenschaft in Rußland aufgehoben worden ist. Am meisten litten unter der Leibeigenschaft diejenigen, die zum Dienst des Gutsherren kommandiert waren. Sie bekamen die meisten Prügel, und sie waren es auch vor allem, die verkauft und versetzt wurden. Doch gleichzeitig fühlten sie sich als eine Art Aristokratie gegenüber den anderen leibeigenen Bauern,,, J>er russische Klassiker Saltykow-Schtschedrin beschreibt als Zeitgendssi- drasrisfch; wie breite Kreise dieses leibeigenen Gesindes über das Befreiungsmanifest des Zaren entsetzt waren und in der Freiheit ihren Untergang sahen. Borii Pasternak erzählt in seinem „Doktor Schiwago“, wie ein armer Bauer, der einen Intellektuellen als Fuhrmann vom Bahnhof ins Landgut fährt, diesem Anhänger der Freiheit lang und breit auseinandersetzt, wie gefährlich es sei, dem russischen Bauern allzuviel Freiheit einzuräumen. Und im heutigen Rußland gibt es sehr viele Menschen, die der Meinung sind, daß der liberale Kurs Chruschtschows nur zur Unordnung und zum Chaos führen kann. Ganz abgesehen von solchen verknöcherten Bürokraten wie etwa Molotow, der von jeder Auflockerung das Chaos erwartet, gibt es viele in der Kommunistischen Partei, die der Meinung sind, auch die Steigerung des Lebensstandards sei zu früh, der Russe sei hierfür noch nicht reif, seine Besitzgier würde damit nur geweckt, und das Endresultat wäre der Untergang des Sowjetstaates. Wir haben ja erlebt, daß jeder Versuch Chruschtschows, Literatur und Kunst zu liberali-sieren, auf den entschlossenen Widerstand jener gestoßen ist, denen er größere Freiheit einräumen will. Diese größere Freiheit, die er verkündete und die von Ilja Ehrenburg als Tauwetter bezeichnet wurde, mußte er wiederum abblasen, und das einzige, was er machen konnte, war, sich hinter den Kulissen hinter solche Autoren zu stellen, die wie Pasternak und DucJiinzew von ihren Berufskollegen gehetzt wurden.

Es ist nicht zu erwarten, daß Chruschtschow von seinen Ideen abläßt. Der Weg, den er sich ausgedacht hat, ist ja schließlich der einzige, um in die Geschichte ebenbürtig neben Lenin und Stalin einzugehen. Man wird schließlich nicht oberster Chef der Sowjetunion, um nur, eine Pension anstrebend, einen netten Lebensabend zu genießen, ohne in die Geschichte einzugehen. Jedoch sehr oft begibt sich da Chruschtschow auf das Glatteis. Das Wort „Weltrevolution“, das Wort „proletarische Diktatur“ kommt in seinen Reden überhaupt nicht vor. Er schlägt einen friedlichen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme vor und spricht die Überzeugung aus, daß die Enkel der heute lebenden Generation von den Tatsachen überzeugt und schiedlich das sowjetische System friedlich übernehmen werden. Damit hat er aber gerade das größte Kernstück des Leninismus revidiert und behauptet etwas, was Lenin seit eh und je in seinem Kampf gegen die Menschewiki als Utopie bezeichnete. Der Leninismus oder Bolschewismus unterscheidet sich von allen anderen sozialistischen Theorien eben dadurch, daß er die Diktatur des Proletariats anstrebt und für längere Zeit aufrechterhalten will. Es ist die Quintessenz der Lehre Lenins, daß die Besitzer des Bodens und der Produktionsmittel ihr Eigentum gutwillig nicht hergeben werden und daß darum zur Erringung des Sozialismus Kampf und Diktatur notwendig sind. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß der chinesische Mao in Chruschtschow so etwas wie einen Ketzer sieht, und für Chruschtschow selbst ist die Lage nicht ungefährlich, denn seit Jahrhunderten war es in Rußland gefährlich — die Geschichte der russischen Kirche hat es oft genug gezeigt —, an Autoritäten zu rütteln. Es ist auch nicht zufällig, daß Chruschtschow immer öfter in seinen Reden über die Köpfe der Partei hinweg an die breiten, parteilosen Massen des Volkes appelliert und daß er versucht, durch die Stimmung der breitesten Volksmassen, bei ihnen . um sejru?. Popularität werbend, seinen Einfluß auch auf die Partei stärker zu gestalten. Die Konzeption und die Ziele Chruschtschows sind deutlich aus seiner inneren Propaganda herauszulesen: Er behauptet, die unentgeltliche Schulbildung auf allen Stufen, die Stipendien für Fach- und HochSchüler, die Einführung des unentgeltlichen Gesundheitsdienstes an Stelle der Krankenversicherung, die Altersrenten aus dem Staatsbudget für jeden Bürger seien schon die Grundlagen des Kommunismus. Einen weiteren Schritt sieht er im Abbau der Lohnsteuern bis 1965 und später der gesamten direkten Steuer. Er vergißt dabei nur zu erwähnen, daß der Sowjetstaat nicht nur von den Gewinnen der staatlichen Wirtschaft lebt, sondern auch von immensen indirekten Steuern.

Die weitere Entwicklung wird dem Sowjetbürger nicht durch offizielle Erklärungen schmackhaft gemacht, sondern durch Zukunftsbilder, welche die Gelehrten des Teams um Chruschtschow entwerfen. Darnach soll bis zum Jahre 1965 jedes Kind und jeder Mittelschüler eine Gratismahlzeit in der Schule empfangen. Bis zum selben Zeitpunkt sollen bei gleichbleibenden Löhnen die Preise in Kantinen, Gaststätten und Restaurants auf die Hälfte reduziert werden, 1975 sollen diese Preise nur ein Viertel der Preise von 1958 ausmachen, und gleichzeitig soll jeder an seiner Arbeitsstätte eine Gratismahlzeit erhalten. 1980 soll die erste Stufe des Vollkommunismus erreicht werden, also die wichtigsten Lebensmittel, Kleider, Schuhe und der wichtigste sonstige Bedarf einem jeden Einwohner der Sowjetunion gratis abgegeben werden. Gleichzeitig, während jetzt die Sowjetunion dabei ist, den Siebenstundentag bei sechs Arbeitstagen in der Woche einzuführen, soll im nächsten Wirtschaftsplan auf einen Sechsstundenarbeitstag zurückgegangen werden. Inoffiziell wieder verspricht das heutige Regime bei starker Entwicklung der Technik und der Produktion für die Zeit nach zwanzig Jahren den Vierstundentag. Ein solcher Ehrgeiz, auf diese Weise in die Geschichte einzugehen, verlangt natürlich vom Standpunkt Chruschtschows aus Frieden im Innern und nach außen und eine mögliche Abrüstung. Wie ist es nun mit der Persönlichkeit bestellt, die sich solche Ziele gestellt hat?

Nikita Chruschtschow ist ein typischer Russe. Genauer umschrieben, man sieht ihm heute noch die bäuerliche Abstammung an. Er ist bauern-schlau, verschlagen, intelligent. Er kann sehr gut die berühmte russische bäuerliche Gutmütigkeit zur Schau tragen, was jedoch oft täuscht. Denn die Vergangenheit Chruschtschows hat gezeigt, daß er auch rücksichtslos hart sein kann und sein Ziel auch über Leichen zu erreichen gewillt ist. Er ist jener Typ des russischen klugen Bauern, der vor der Revolution zuerst wirtschaftlich sein Dorf beherrschte und dann mit eisernen Ellenbogen sich vorarbeitete und zum Kapitalisten wurde. Auch sein Äußeres heute erinnert immer wieder an die alten russischen Textil-könige bäuerlicher Abstammung. Doch mit der Bildung Chruschtschows hapert es. Lenin und sein Kreis, russische Intellektuelle, waren hoch gebildet. Sie haben ja mehr als das halbe Leben in den großen Bibliotheken Europss verbracht. Auch der Zögling des Popenseminars, Stalin, anfangs ein Halbgebildeter, hatte, dem Zug der Zeit folgend, eifrig gelesen und studiert und war ein Mann von vielen Kenntnissen. Dazu hatte Chruschtschow keine Zeit. Er ist ein großer Routinier des Parteilebens, aber er verrät oft in seinen Reden eine Unwissenheit, indem er Sachen behauptet, wie sie sich in der Vorstellungswelt des durchschnittlichen Sowjetbauern vorfinden. Auch seine Kenntnisse im Marxismus und Leninismus gehen nicht über die Schulung eines mittleren Parteifunktionärs hinaus. Das könnte einmal sein Verhängnis werden, wenn es den konservativen Kräften in der Partei gelingt, sich an die Macht heranzumanövrieren. Hat Chruschtschow jene Diktaturgewalt, um rücksichtslos über alle inneren Widerstände hinwegzugehen? Nun, das hängt davon ab, was man unter dem Begriff Diktator versteht. Zweifellos ist Chruschtschow, solange er Ministerpräsident und Parteisekretär ist, politisch der einflußreichste Mann der Sowjetunion. Doch Herr über Leben und Tod des Sowjetbürgers ist er nicht mehr. Die Geheimpolizei untersteht ihm nicht mehr allein, ganz abgesehen davon, daß diese in ihren Vollmachten weitgehend beschränkt ist, vor allem das Recht der Urteilsfällung verloren hat. Diese Reformen sind schon unter Stalin beschlossen worden. Der Grund dieser Reformen war vor allem der, daß es sich gezeigt hat, daß die Geheimpolizei nicht nur ein Schutz des Lebens der politischen Führer und des Regimes sein kann, sondern, wie der Fall Jagoda und Beria beweisen, von zahlreichen Fällen in der zaristischen Vergangenheit ganz abgesehen, auch eine eminente Gefahr für die leitenden Männer darstellen kann. Die Rückkehr zum Rechtstaat war also vor allem im Interesse der Führerspitze selbst gelegen. Darüber hinaus hat die Reform des inneren Lebens die Rückkehr zu Leninschen Organisationsprinzipien auch eine Verschiebung des Schwergewichtes der Macht innerhalb der Partei gebracht. Das Zentralkomitee der Partei ist heute jenes Gremium, das im Grunde genommen entscheidet und dessen Mehrheit Chruschtschow unbedingt benötigt. Die Mitglieder des Zentralkomitees stehen jedoch überall in der Provinz im praktischen Leben und sind heute ungemein stark von den Stimmungen der Massen außerhalb der Partei beeinflußt. Wie wir schon erwähnt haben, versucht Chruschtschow über die Köpfe der Partei hinweg die Massen direkt zu beeinflussen. Ein Beispiel dafür sind die neuen Bräuche, die er eingeführt hat: nach jeder Reise hält er einen Rechenschaftsbericht im Moskauer Sportstadion oder vor einer anderen Massenversammlung, wobei die Zuhörer zum größten Teil keine Kommunisten sind. Etwas Neues hat er jetzt erdacht. Er hat die prominentesten Intellektuellen, Gelehrte, Schriftsteller und Künstler, zu einem Sommerfest eingeladen, wobei vor diesem Forum die Parteileitung ebenfalls einen Rechenschaftsbericht und eine Darlegung der Ziele abgegeben hat.

Diesen Bestrebungen Chruschtschows, die Popularität der Massen zu erobern, hat der Konflikt um die U 2 einen empfindlichen Schlag versetzt. Die russisch-nationalistische Propaganda, die 1935 begann, steigerte sich bis zum Extrem, und heute, nach einem siegreichen Krieg, kann man ruhig sagen, daß der alte extreme russische Nationalismus, ja Chauvinismus, eine vorherrschende Grundstimmung in der Sowjetunion ist, auch wenn dies der einzelne Russe im Verkehr mit einem Ausländer nicht immer zeigt. Dabei ist trotz dieser Propaganda der russische Minderheitskomplex dem Westen gegenüber immer noch vorhanden und drückt sich in einer beinahe krankhaften Empfindlichkeit aus. Der U-2-Zwischenfall, vor allem das nachherige Verhalten Washingtons, hat das Gefühl einer tiefen Beleidigung in der Sowjetunion ausgelöst. Die Gegner Chruschtschows versuchen das auch auszunützen. Sie erklären, die Grundkonzeption Chruschtschows und seine Beurteilung der Weltlage sei unrichtig. Chruschtschow behauptet ja, daß die Friedenskräfte in der Welt stärker sind als die zum Kriege treibenden Kreise. Die Gegner Chruschtschows sagen, daß der U-2-Zwischenfall und das verweigerte diplomatische Bedauern nicht von der Persönlichkeit Eisenhowers oder Herters veranlaßt wurden, sondern weil die Kräfte des Krieges in den USA stärker sind. Sie argumentieren, daß die Weltbourgeoisie eher einen neuen Weltkrieg riskieren wird, als zuzulassen, daß Chruschtschow seine wirtschaftlichen Ziele erreicht und damit den friedlichen Sieg des Kommunismus herbeiführt. Diese Argumentation können sie auch mit Zitaten von Lenin belegen.

Für die nächste Periode bleibt also Chruschtschow nichts anderes übrig als eine „national“ möglichst kraftvolle Außenpolitik zu führen, dem durchschnittlichen Russen zu zeigen, daß die Sowjetunion eine Weltmacht ist, ohne die nirgends in der Welt, ob nun im Kongo oder auf Kuba, etwas von Bedeutung geschehen kann. Gleichzeitig muß er immer wieder demonstrieren, daß sich die Sowjetregierung vom Westen, vor allem von den USA, auch nicht da Leiseste gefallen läßt und auf jede Geste, sei sie noch so harmlos, brüsk, grob und kraftvoll reagiert.

In diesem Zeichen wird die sowjetische Außenpolitik in den nächsten Monaten stehen und die Welt im Gefühl der Unsicherheit und einer gewissen Nervosität halten. Der bauern-schlaue Chruschtschow denkt vielleicht, daß er dabei den Boden für neue Verhandlungen mit einer neuen amerikanischen Regierung am besten vorbereite.

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