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Digital In Arbeit

Antworten auf heikle Frage

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Daniela ist das Kind ziemlich wohlhabender Eltern; der Vater betreibt eine Fuhrhalterei (über fünfzig Prozent des Kapitals sind noch in seinen Händen); die Mutter, früher Konzertpianistin, gibt Klavierstunden. Daniela spielt schon ganz ausgezeichnet Geige; man sagt mir, daß Kinder bei entsprechender Begabung in der DDR bereits ab vier Jahren unentgeltlich Musikunterricht erhalten. Der Bruder der zierlichen Virtuosin, ein hochgewachsener, vorwitziger Gymnasiast, ist Cellist im Schülerorchester; das macht ihm Spaß, aber den „obligatorischen Tag in der Fabrik“ schätzt er offensichtlich gar nicht. Der Vater indes (Mitglied des Schulbeirates, kein Parteimann) verteidigt die Einrichtung gegen seinen rebellischen Sohn; es sei sehr richtig, meint er, die „Welt des Geistes“ und die „Welt der Arbeit“ miteinander in Berührung zu bringen.

Damit verlassen wir die musikalischen Gefilde und geraten langsam in politische Bereiche. Ich sage Herrn und Frau S„ daß für uns im Westen die Mauer mitten durch Berlin ein großes Ärgernis sei. Sie verstehen das sehr gut, finden aber gleichwohl (wie übrigens manche Gesprächspartner in der DDR), die Mauer habe leider „kommen müssen“. Warum? Weil Ostdeutschland „auszulaufen“ drohte, weil „fast alle“ wegwollten. Und weshalb wollten sie weglaufen? Weil es gewissermaßen „Mode“ wurde, sagt Herr S.; weil viele es in der DDR zu nichts gebracht hatten, weil die goldenen Töpfe der Bundesrepublik lockten, weil die beruflichen Anforderungen zu groß waren; weil manche den lästigen Zwang nicht mehr aushielten .,.

In dieser Reihenfolge zählt S. die Fluchtgründe auf; Gewissensnot und politische Motive erwähnt er erst gegen Schluß (auch Bonner Sachverständige räumen ein, daß die ausgesprochen politischen Zonenflüchtlinge in der Minderzahl seien). Frau S. erinnert sich an einen Vierzeiler, der nach dem Krieg die Westflüchtlinge verspottete; sie meint, er gelte auch für spätere Abwanderer:

Ich komme aus dem Osten und suche einen Posten!

Den Führer hab ich nicht gekannt, die Papiere sind verbrannt…

Gleichwohl spreche die Massenflucht aus der DDR gegen das Regime, wende ich ein. Darauf gibt Herr S. die Argumentation der Partei wieder (ohne sie rundweg abzulehnen): ,Nein“, betone die Partei, ,wir sind von der Richtigkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung überzeugt; aber vielen fehlt die Einsicht, und sie müssen zuerst reif werden…; im Schutz der Mauer kann sich nun die Entwicklung endlich ruhig vollziehen“. (Anderntags, in Seelow, sagt mir eine Arztfau im gleichen Atemzug, die Mauer sei „entsetzlich“, und „seit der Mauer geht es besser“ — denn nach ihrer Errichtung habe sich die wirtschaftliche Lage konsolidiert, und der politische Druck habe etwas nachgelassen. Auch eine scheinbar so eindeutig widerwärtige Sache wie die Mauer ist in ihren Auswirkungen komplexer, als man denkt.)

Aber warum flohen Sie eigentlich nicht, solange dazu die Möglichkeit bestand?, frage ich Herrn und Frau S. (die alles andere als Kommunisten sind). Ihre Antwort lautet ungefähr folgendermaßen: „Drüben“ würden wir ohne Zweifel schnell Arbeit finden und wahrscheinlich mehr Geld verdienen als hier; aber man müßte sich emporboxen, man bliebe allein, man würde in unserem Alter; schwerlich noch einen Freundeskreis finden; die Ostdeutschen, wie Sie wissen, sind in der Bundesrepublik nicht beliebt; frühere Bekannte klagen immer wieder darüber… Hier haben wir unsere Eltern, unsere Freunde; hier pflegen wir eine schöne, herzliche, wenn auch bescheidene Geselligkeit; hier sind wir, trotz allem, daheim.

Sind das Ausreden von Leuten, welche ihre Chance verpaßt haben? Es klingt eigentlich nicht so.

Angst und Unkenntnis helfen nicht weiter

Ich überlese meine Tagebuchnotizen und beklage ihre Lückenhaftigkeit. Aber einiges regt vielleicht doch zum Nachdenken an; und auf dies oder jenes kann man zurückkommen. Wie soll ich die Berichte über meine Reise durch die DDR schließen? Vielleicht am besten mit den Worten eines klugen Rechtsanwalts in Ostberlin; er sagte mir: „Die Deutschen in Ost und West haben Angst voreinander. Die Westdeutschen befürchten, daß ganz Deutschland kommunistisch werden könnte; die Ostdeutschen befürchten, daß Westdeutschland die DDR ,aufschlucken“ könnte. Beide Befürchtungen sind unrealistisch; die weltpolitischen Konstellationen lassen solche ,Lösungen“ gar nicht zu. Aber Angst ist verheerend; sie führt zu Unkenntnis, zu leeren Schlagworten, zu barer Dummheit. Und diese Dummheit verbaut den Weg zu objektiv möglichen Annäherungen…“

Muß das so sein?

Muß das so bleiben?

Wir jedenfalls können uns den Luxus leisten, nicht in Unkenntnis zu verharren.

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