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Das „Fremdarbeiterproblem'1 in Österreich

ZU HAUSE GILT ER ALS „FAHNENFLÜCHTIGER“, im Gastland ist er der „Fremde“. Seine Arbeitskollegen sehen in ihm oftmals den „Streikbrecher“, den Gefährder sozialer Errungenschaften. Die Arbeitgeber stecken ihn häufig in Baracken, und die Behörden ärgern sich über die durch mangelnde Sprachkenntnisse bedingte Langsamkeit der Aktenerledigung. Und zu allerletzt hadern auch die Schicksalsgenossen miteinander: anachronistische, oft blutige Nationalfehden werden fern der Heimat ausgetragen. Sein einziger Freund ist der Bahnhof der Heimatrichtung, die stummen Geleise zeigen den Weg nach Hause.

Dieser Mensch, dessen ganze Habe meist in einem Pappkarton liegt, ist der Gastarbeiter der westeuropäischen Industrieländer. Er kommt aus den wirtschaftlach „unterentwik-kelten“ Ländern Europas: aus Jugoslawien, Griechenland, Italien, Spanien und aus der europäischen Türkei. Westeuropäische Gastarbeiter gelten meist nur bei den Arbeitsämtern als „Fremdarbeiter“, ansonsten bleiben sie von dem negativen Odium verschont.

MEHR ALS FÜNF MILLIONEN GASTARBEITER sind gegenwärtig in den westeuropäischen Industrieländern beschäftigt. Von Jahr zu Jahr hat ihre Zahl rund um eine halbe Million zugenommen. Das entspricht etwa dem Gesamtzuwachs der Beschäftigtenzahlen in den Industriestaaten. Vier Millionen Arbeiter stammen aus Europa, und zwar hauptsächlich aus Italien, Spanien, Griechenland und der europäischen Türkei. Die meisten fanden Arbeit in der Bundesrepublik, Frankreich und der Schweiz. In Luxemburg und in der Schweiz war im vergangenen Jahr fast jeder dritte Arbeitnehmer ein Ausländer.

Einige Zahlen sollen das gegenwärtige Bild in den einzelnen Aufnahmeländern skizzieren:

• Deutschland: 1,314.000 (399.000 Italiener, 196.000 Griechen, 185.000 Spanier, 158.000 Türken usw.).

• Frankreich: 1,100.000 (346.000 Spanier, 340.000 Italiener, 300.000 Algerier usw.).

• Schweiz: 536.000 (337.00 Italiener, 26.000 Spanier usw.).

• Belgien: 164.000.

• Österreich: 70.000.

• Dänemark: 24.000.

In allen Gastländern werden diese Arbeiter mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Man erwägt bereits, ihren Strom durch behördliche Maßnahmen einzudämmen. So hat die Schweizer Regierung, aus Furcht vor einer „Überfremdung“ und um den Devisenabfluß durch Lohnüberweisungen einzuschränken, energische Maßnahmen ergriffen, um die Zahl der Gastarbeiter zu reduzieren.

Die Gastarbeiterwelle scheint ihren Höhepunkt bereits überschritten zu haben. Wegen gestiegener Löhne und geringerer Arbeitslosenzahl sind — um nur ein Beispiel zu nennen — nur noch wenige Italiener bereit, ihr Land zu verlassen. Eine ähnliche Entwicklung wird in Spanien und in Jugoslawien erwartet. Zusätzliche Arbeitskräfte müssen daher in immer weiter entfernten Ländern angeworben werden. Die Franzosen holen ihre „Fremdarbeiter“ aus Nordafrika.

WIE DIE ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR ANWERBUNG ausländischer Arbeitskräfte der Bundeswirtschaftskammer mitteilt, konnten alle der insgesamt 30 Fremdarbeiterteilkontingente abgeschlossen werden. Somit ergibt sich zu Beginn 1967 ein Gesamtkontingent von 70.000 Fremdarbeitern, wobei jedoch noch Aufstockungsmöglichkeiten gegeben sind. Zu Beginn des vorigen Jahres betrug das Gesamtkontingent 52.168; der Höchststand belief sich im September auf 49.102 in Österreich tätige Fremdarbeiter, das Gesamtkontingent erreicht zu dieser Zeit 65.194.

1966 waren die Kontingente einiger Branchen — wie Baugewerbe, Eisen-und Metallwarenindustrie oder Textilindustrie — voll ausgeschöpft (1967 ebenfalls). Der Großteil der Gastarbeiter kommt aus Jugoslawien, aus der Türkei, aus Deutschland und aus Italien. Insgesamt wurden 34.612 jugoslawische Fremdarbeiter gezählt. Diese Zahl wird im laufenden Jahr weiter ansteigen.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich menschliche und wirtschaftliche Probleme. Das ständige Für und Wider bei der Gastarbeiterbeschäftigung zieht heute, unter der berechtigten Angst einer Wirtschaftsrezes-sion, weite Kreise. Wie so oft in sozialpolitischen Fragen klaffen auch hier die Meinungen der Gewerkschafter und der Unternehmer auseinander.

Die Interessenvertreter der Arbeitnehmer verlangen eine tatsächliche Arbeitskontrolle für Fremdarbeiter. Neben einer entsprechenden Unterbringung gehören vor allem die Gesundheits- und Kontingentskontrollen verschärft. Die strikte Einhaltung der Vertragsdauer wird gefordert, um die Arbeitsplätze inländischer Arbeitnehmer nicht zu gefährden.

Der Gastarbeiter trachtet während seines erlaubten Aufenthaltes möglichst viel zu verdienen; deshalb ist er gewillt, samstags und manchmal auch sonntags zu arbeiten und jeden Tag mehrere Überstunden zu leisten. Obwohl sein Bestreben aus menschlichen Gründen durchaus verständlich ist, müssen die Gewerkschaften entsprechende Schritte gegen die Auflockerung bereits erkämpfter Rechte unternehmen.

In diese Zwickmühle auseinanderklaffender Interessen gerieten auch die Unternehmer. „Verantwortliche Arbeitgeber“, erklärte in einem Gespräch Ing. Dorner von den Schmidt-Stahlwerken, „haben die Aufgabe, hier zu schlichten.“ Im Gegensatz zu manchen Bauunternehmungen, wo die gegenseitig abgeworbenen Gastarbeiter in unwürdigen Baracken zusammengepfercht werden, unterhalten die Schmidt-Stahlwerke ein außerordentlich sauberes Quartier für ihre auswärtigen Arbeitnehmer. Auf die 100 Schlafstellen kommen ungefähr 70 Ausländer. In einer überaus strengen Ordnung können hier die ausländischen Arbeiter, selbstverständlich aber auch die Inländer, kostenlos wohnen. |

„Unsere Probleme sind aber J menschlicher Natur“, beklagte sich der 35jährige Türke Ismail M. In gebrochenem Deutsch bedauerte der Sohn türkischer Kleinbauern den Mangel an „menschlichen Kontakten“. „Mit einem anständigen Mädchen können wir nicht ausgehen“, fuhr der vierfache Vater fort, „und so ist unser einziger Treffpunkt der | Bahnhof, von wo die Züge nach Hause fahren.“

DAS GROS DER VERWALTUNGSARBEIT bei der Ausländerbeschäftigung müssen die Arbeitsämter leisten. Über diese Arbeit berichtet der Vermittlungsleiter des Landesarbeitsamtes Wien, Oberrat Dr. Danimann: „Der Grund für die Beschäftigung von ausländischen Dienstnehmern ist vornehmlich auf die weitgehende Ausschöpfung des inländischen Arbeitsmarktes zurückzuführen. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, daß Österreich auch heute noch eine beachtliche saisonale und auch regionale Arbeitslosigkeit aufzuweisen hat. So steht etwa einer durchschnittlichen Arbeitslosenrate von 1,8 in Wien eine solche von 9,6 im Burgenland, von 5,8 in Kärnten und von 3,7 in der Steiermark gegenüber.

Die gesetzliche Grundlage für die Ausländerbeschäftigung ist derzeit die deutsche Verordnung vom 23. Jänner 1933; es wäre dringend geboten, sie durch ein österreichisches Gesetz zu ersetzen.

ZUR BESCHÄFTIGUNG EINES AUSLÄNDERS benötigt der Betrieb eine Beschäftigungsgenehmigung, die ausländische Arbeitskraft eine Arbeitserlaubnis, die nach den Bedürfnissen der inländischen Wirtschaft und nach der Lage auf dem inländischen Arbeitsmarkt jeweils für die Dauer höchstens eines Jahres erteilt wird. Über die Anträge auf Beschäftigungsgenehmigung und Arbeitserlaubnis entscheiden die Arbeitsmarktbehörden (Arbeitsämter oder Landesarbeitsämter) in Zusammenarbeit mit den paritätischen Ausschüssen der Dienstgeber und der Dienstnehmer.

Die Arbeitsämter haben zu prüfen, ob ein den örtlichen Verhältnissen entsprechendes Quartier für die Ausländer vorhanden ist, ob nicht schwerwiegende Verstöße gegen die Lohn- und Arbeitsbedingungen vorliegen, ob die Ausländer sanitätsbehördlich untersucht sind, usw. Die Dienstgeber werden verpflichtet, bei Verringerung des Arbeiterstandes ausländischer Dienstnehmer vor Inländern auszubauen.

Die erhöhte Belastung der Arbeitsämter mit den Agenden im Ausländerverfahren geht verständlicherweise auf Kosten anderer Aufgaben, insbesondere jener der Arbeitsvermittlung und der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Es mehren sich bereits Fälle, in denen österreichische Arbeitsuchende darüber befremdet sind, daß sie wegen Überlastung der zuständigen Fachvermittler lange Wartezeiten auf sich nehmen müssen oder nicht immer mit der notwendigen Geduld beraten werden können.Da und dort taucht bereits der Vorwurf auf, die Arbeitsämter würden zu „Ausländerämtem“.

Zu den Agenden, die den Arbeitsämtern übertragen wurden, gehören auch die Vorlage der Anträge auf Arbeitserlaubnis an die Fremdenpolizei und die Überwachung der sanitätsbehördlichen Überprüfung. Letztere wird seit dem Jahr 1965 gehandhabt; sie hat den Zweck, der Gefährdung von Inländern vorzubeugen. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen haben die Notwendigkeit dieser Überwachung bestätigt. Erst kürzlich hat Dr. Junke vom Gesundheitsamt der Stadt Wien beim Internationalen Kongreß für Arbeitsmedizin festgestellt, daß auf 1000 Gastarbeiter 14,5 Tbc-Fälle kommen, während auf 1000 österreichische Arbeiter ein Tbc-Fall kommt. Dr. Neuner aus Linz hatte bei 20 Gastarbeitnehmern gar sieben Tbc-Fälle festgestellt.

SO LANGE DIE WESTEUROPÄISCHEN Industrieländer gezwungen sind, für bestimmte Arbeiten Ausländer zu beschäftigen, wird das Problem „Fremdarbeiter“ weiter existieren.

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