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Arbeiter gegen Giganten

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New York, 18. Oktober

Am 30. September ist hier ein Ereignis von großer Tragweite eingetreten. Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft der Stahlarbeiter und der Stahlindustrie mußten erfolglos abgebrochen werden. Freitag nacht erlosch der Feuerschein über den Hochöfen der amerikanischen Stahlhütten, und mehr als 600.000 Arbeiter dieser für die gesamte Wirtschaft lebenswichtigen Schlüsselindustrie traten in den Ausstand. Dieses Ereignis ist um so schwerwiegender, als sich bereits fast 500.000 Kohlenarbeiter im Streik befinden. Die Vorgeschichte dieser Verwicklungen ist interessant genug. Sie bedeutet mehr als nur Differenzen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, vielmehr Versuche, grundlegende soziale Probleme zu lösen. In beiden genannten Industrien dreht es sich in diesem Kampf weniger um Lohnforderungen als um Forderungen von Alterspensionen und weniger um die Frage, ob solche Pensionen gewährt werden sollen, sondern wer sie bezahlen soll. Am 28. September kam zwischen der Gewerkschaft der Automobilarbeiter und der Ford Motor Company eine Vereinbarung zustande, wonach sich die Ford-Werke verpflichteten, einen Beitrag von 83 Cents pro Arbeitsstunde für jeden Arbeiter zu bezahlen, um für eine mit dem 65. Lebensjahr fällig werdende Alterspension von 100 Dollar monatlich vorzusorgen. Diese Pension enthält auch diestaatliche Altersrente, die weitaus geringer ist, für die jedoch jeder Arbeiter Beiträge zu leisten hat. Die Differenz zwischen der staatlichen Rente und den 100 Dollars bezahlt die Ford-Gesellschaft zur Gänze aus eigenem. Heute ist eine weitere große Automobilgesellschaft dem Beispiel Fords gefolgt. In der Automobilindustrie wurde daher ein Streik vermieden. In der Bergbauindustrie besteht eine ähnliche Vereinbarung schon seit längerem in der eigenartigen Form, daß die Industrie von jeder Tonne Kohle eine bestimmte Tantieme royalty in den Wohlfahrtfonds der Arbeiter einzubezahlen hat. Dieser Verpflichtung ist sie, nach der Behauptung der Gewerkschaft, nichtvollnachgekommen, und der Wohlfahrtsfonds ist daher :n Schwierigkeiten geraten. Pensionsauszahlungen mußten eingestellt werden. Der Streik der Bergbauarbeiter hat diese als Ursache.

Auf dem Gebiet dieser Industrie hat die Arbeiterschaft begonnen, auch die Preise zu reg u 1 ieren. Im Falle übermäßiger Anhäufung von Vorräten, die auf die Preislage drückend wirken könnten, kam es zu Arbeitseinstellungen, die die Lagerbestände zu regulieren und Einfluß auf die Preisgestaltung zu üben, das Lohnniveau zu erhalten oder zu erhöhen und den Tantiemenanteil ihres Wohlfahrtsfonds zu sichern suchen. Hier wird somit eine Lösung, welche in Form staatlicher Planwirtschaft in anderen Ländern unternommen wurde, auf privatwirtschaftlicher Grundlage zu erreichen gesucht. In der Stahlindustrie erstreckte sich die Forderung der Gewerkschaft auf eine Alterspension von 100 Dollar monatlich, die zur Gänze Von der Industrie bezahlt werden soll. Ein Komitee des Präsidenten Truman, das mit der Überprüfung der Sachlage betraut wurde, kam zu der Entscheidung, daß Lohnforderungen der Arbeiter abzulehnen seien. Hingegen empfahl das Komitee die Bezahlung des Pensionsplanes durch die Industrie. Diese Empfehlung — das Komitee ist kein bindendes Schiedsgericht — wurde von der Industrie nicht angenommen. Sie macht Einwände soziologischer Natur geltend und verlangt eine zuzügliche Beitragsleistung von selten des Arbeiters für seine Pension. Er soll irgendeinen Beitrag aus eigenem leisten, man könne nicht Forderungen stellen, auch die nicht nach einer Altersrente, ohne selbst etwas zu ihren Erfüllungen beizutragen. Ein Nachgeben würde nur der erste Schritt sein, dem andere folgen würden.

Warum sich gerade die Stahlindustrie berufen fühlte, in diesem wichtigen dogmatischen Streit sozusagen als Wortführer für die gesamte amerikanische Privatwirtschaft aufzutreten, mag aus folgendem hervorgehen: die amerikanische Stahlindustrie ist die mächtig- ste.und wichtigste Schlüsselindustrie des Landes. Die „New York Times" schildern sie folgendermaßen: „Die Stahlindustrie bezahlt jährlich zwei Milliarden Dollar an Löhnen. Gemeinsam mit ihrer Kundschaft entfallen auf sie 4 0 Prozent der gesamten in der her stellenden Industrie ausbezahlten Löhne. Sie ist in der Lage, jährlich 94 Millionen Tonnen jenes Metalls herzustellen, welches das Rückgrat des gesamten Geschäftes, der nationalen Verteidigung und eines großen Teiles des Wieder-aufbaues des Westens bildet.“ In der Stahlindustrie sind mehr als 60 große Konzerne und hunderte kleinerer Unternehmungen tätig. Sie verteilt sich über 26 Staaten der USA. Das größte Stahlunternehmen ist die United Steel Corporation. Sie stellt 40 Prozent des amerikanischen Stahles her. Auf der anderen Seite steht die Gewerkschaft „United Steelworkers“ mit einer Mitgliedschaft von einer Million. Ihr Präsident ist Philip Murray, ein wichtiger politischer Förderer von Trumans Politik.

Der Streik kam gerade zu einer Zeit, als sich die Wirtschaft nach einem nicht unempfindlichen Rückgang in der Konjunktur wieder zu erholen begann. Er kostet der Gesamtwirtschaft 30 Millionen Dollar täglich 10 Millionen nicht zur Auszahlung gelangender Löhne an Berg- und Stahlarbeiter, 2 Millionen an Entfall von Einnahmen der Eisenbahnen, 17 Millionen unterbliebene Verkäufe in Stahl und Kohle und 1 Million sonstige Verluste Verwandter Industrien. Man vergegenwärtige sich die Tatsache, daß sich solche Verluste lawinenartig vergrößern müssen, je länger sie anhalten, denn 30 Millionen täglich bleiben nicht in Banktresors liegen. Sie wandern zum Lebensmittelhändler, ins Kleidergeschäft, auf dem Umweg über Banken ins Bauwesen, ins Kreditgeschäft, in die Steuerkassen und von allen diesen Stellen wieder zurück in die Hände des Angestellten und Arbeiters, des Kapitalisten und von neuem wieder in den Kreislauf des Landes.

Schon mußten einige führende Industrieunternehmungen ihre Erzeugung einschrän- ken. Unter ihnen befinden sich auch die Packard-Automobilwerke, die 80.000 Arbeiter Donnerstag und Freitag dieser Woche „beurlaubt“ ohne Bezahlung haben. 40.000 Arbeiter der Eisenbahngesellschaften wurden „beurlaubt“. Einige führende Unternehmungen auf dem Gebiete der Erzeugung von elektrischen Haushaltmaschinen — unter ihnen die Westinghouse Electric Corporation und die General Electric Company haben heute erklärt, daß sie daran sind, Rationierungsmaßnahmen in der Belieferung ihrer Kundschaft zu ergreifen, was soviel wie eine Drosselung des Handels bedeutet.

Man spricht bereits davon, daß der Zeitpunkt nicht mehr fern sein kann, wo di Regierung gezwungen sein wird, einzugreifen. Zwischen den streitenden Parteien hat keinerlei Annäherung stattgefunden. Der Standpunkt der Arbeiterschaft, daß der Unternehmer für die Kosten der Sicherstel- lung gegen das Risiko des Krankseins und das Alters seines Arbeiters aufzukommen habe und diese Kosten ebenso in seine Produktionskalkulation einzubeziehen habe, wie Erneuerung, Ausbesserung, Wiederanschaffung und Abschreibung von Maschinen, Werkzeug und Material, scheint unverrückbar zu sein. Die Arbeiterschaft hat den moralischen Vorteil, ein Gutachten der Regierung und den Zug der Zeit auf ihrer Seite zu haben. Die Industrie hingegen glaubt, die vorliegende Frage als ein Prinzip außerordentlicher Bedeutung behandeln zu müssen, und ist von ihrer Forderung — Teilnahme des Arbeiters an den Kosten seiner Sicherstellung und durch diese Teilnahme Bekenntnis zur Aufrechterhaltung der Erkenntnis, daß auch das moderne Leben nichts gibt, wenn nichts investiert wurde, ebenfalls nicht abgerückt. Sie stützt sich dabei auf die amerikanische Tradition und den Hinweis, daß die amerikanischen Erfolge nur deswegen möglich gewesen seien, weil sie diese Erkenntnis zur Grundlage hatten.

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