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Arbeitgeber Staat

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Die Ziffern der letzten Wahlergebnisse in England —, der Verlust von 660 Mandaten der Labour Party zumeist an die Konservative Partei in den Gemeindewahlen des ersten November und der Wahlausgang in Gravesend, mit dem bei einem Verlust von 7000 Stimmen der Labour-Party-Mann mit 24,692 Stimmen gegen die 23,017 seines konservativen Gegners mit Müh und Not noch das Mandat dieses schwerindustriellen Wahlkreises erhaschte — geben zusammen mit dem Vorspiel dieser politischen Proben viel über Erscheinungen zu denken, die nicht nur für England demokratische Pädagogik bedeuten.

Die Regierung der Labour Party ist in den letzten zwei Jahren zur Erfüllung ihrer Verheißungen mit einem Sozialisierungs-programm hervorgetreten, das Achtung einflößte durch seinen Mut. Der Staat legte mit der Nationalisierung Hand auf die Bank von England, die Kohlengruben und das Luftfahrtwesen. Für das Transportwesen und die Sozialversicherung tritt die Nationalisierung mit 1. Jänner 1948 in Kraft, für das gesamte Gesundheitswesen mit April. Gas und Elektrizität folgen und zu einem späteren Zeitpunkt die Stahlindustrie. Der Start dieser großzügigen Gesetzgebung erfolgte planmäßig. Der Eindruck, daß hier ein Musterbeispiel sozialer Reform gegeben werde, war vorherrschend. Tüchtige Führer und die“ Sauberkeit englischer Verwaltung standen dabei als Bürgen.

Es war alles gut, bis sich einzelne und sich , stetig mehrende Störungen bemerkbar machten, und von einer Seite, von der sie in dieser Stärke und Unbarmherzigkeit nicht erwartet wurden: sie kamen von unten her. Illustration ist gegenwärtig ein Streik der Kohlenbergarbeiter in Wales, die mit der Verwaltung des Coal Board nicht einverstanden sind, einer Verwaltungsorganisation, die für die nationalisierten Kohlengruben verantwortlich ist. Bis 1939 hat Großbritannien ungefähr 30 Millionen Tonnen Kohle jährlich ausgeführt und mehr als je ist England heute auf diesen Export angewiesen: aber die Kohlenproduktion ging ständig zurück, und die ersten Wochen der nationalisierten Kohlenindustrie waren durch einen wirtschaftslähmenden Kohlenmangel gekennzeichnet, mit kalten Herden in den Küchen und Wohnungen. Am 1. Mai dieses Jahres wurde die Fünftagewoche “im Kohlenbergbau eingeführt, auf Grund der bestimmten Zusage, daß die neue Arbeitsordnung einen solchen Fortschritt bedeute, daß in diesen fünf Tagen die gleiche Produktion wie früher in sechs Tagen erreicht werden würde. Doch nach den ersten zwei Wochen fiel die Produktion hinter die vereinbarten Produktionsziffern zurück und Ausstände brachen aus, die viele hunderttausende Tonnen Kohle Verlust brachten. Fast alle diese Streiks waren disziplinwidrig, gegen den Rat und entgegen den Weisungen der Gewerkschaft geführt. Umsonst waren die Beschwörungen der Gewerkschaftsführer und der Männer in der Regierung, umsonst der Hinweis auf die folgenschwere Schädigung der Gemeininteressen, den Zwang vieler Betriebe zur Kurzarbeit. Und umsonst audi die Vorstellungen, daß die Streikenden sich selbst schadeten und mehr noch der Sache der gesamten Arbeiterschaft und ihrer Arbeiterregierung.

Die Grubenarbeiter waren nicht die einzigen, die sich um ihre Gewerkschaften und die Interessen ihrer Kameraden in anderen Industrien wenig kümmerten; die Arbeiter in den Markthallen streikten, die Ladearbeiter in den Häfen, dann wieder die Eisenbahner und so fort. Alles sollte in diesem Jahr aufgeboten werden, um die Produktion auf allen Gebieten zu steigern. Man konnte mit Recht von einem nationalen Notstand sprechen, in dem persönliche und Gruppeninteressen hintanzusteilen sind und alles andere gemeinschädlkhe Kurzsichtigkeit sei. Aber die Argumente obsiegten nidit.

Ein verwirrendes Bild: Auf der einen Seite die Arbeiterregierung, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, das soziale System des Staates tiefreichend zu ändern, und die breiten Massen der arbeitenden Bevölkerung, die sich für eine solche Politik ausgesprochen haben. Auf der anderen Seite jedoch dieselben Wälllerkreise im Zusammenstoß mit der eigenen Regierung, die wiederholt Truppen einsetzen muß, selbst um auch nur die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Aus dieser eigenartigen Situation erwachsen Schwierigkeiten ohne Ende — für eine Regierung, die nicht aus erfahrenen alten Staatsmännern zusammengesetzt werden konnte, die gewiß auch ihre Mängel gezeigt, aber auch viel Initiative, Geschick und in bedrängter Lage viel Takt und Zivilcourage bewiesen hat. Aber ihre Versuche, eine wirklich sozialistische Politik durchzuführen, scheitern an der mangelnden Unterstützung der organisierten Arbeiterschaft. Die schmerzliche Erfahrung wird offenbar, daß selbst in der wohlgeschulten englischen Arbeiterschaft bestimmte Schichten psychologisch sich nicht fähig zeigten, die Opfer auf sich zu nehmen, die mit dem Neubau einer sozialistischen oder einer Planwirtschaft notwendigerweise verbunden sind. Man forderte Reformen, die das Privateigentum maßgebender Wirtschaftsbezirke aufheben und das Staatsvolk an Stelle der Privatunternehmen setzen sollten. Doch darüber hinaus reiditen nicht klare Einsichten und Folgerungen. So ist die Unsicherheit der Arbeiterregierung auf so vielen Gebieten nichts anderes als das Spiegelbild der Unklarheit und der Unentschlossenheit der Wählermassen geworden, die nicht all der Änderungen bewußt geworden sind, die in ihrem Leben Platz gegriffen und die sie selbst gewollt haben. Zu spät suchen sich die mächtigen Gewerkschaftsorganisationen, der Verantwortung ihrer Regierung gegenüber denn doch schon etwas bewußt geworden, gegen die Welle disziplinloser Streiks zu stemmen. Aber sie selbst haben noch nicht ganz von der Tatsache Kenntnis genommen, daß ein sozialisierender Staat eine neue Einstellung und eine von der bisherigen verschiedene Gewerkschaftpolitik verlangt. In einer nationalisierten Wirtschaft, Zumindestens in den nationalisierten Industrien, gilt nicht das Gesetz von Angebot und Nachfrage, nicht das Profitmotiv und auch nidit für “die Arbeiterschaft die Notwendigkeit, Besserung der Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist ein grundsätzlich anderes, ja der kapitalistische Begriff Arbeitgeber hat in diesem Falle jeden Inhalt verloren. Denn Arbeitgeber ist^der Staat, die Gemeinschaft. Einer grundsätzlichen Änderung in der psychologischen Einstellung steht jedoch die traditionelle Gewerkschaftspolitik im Wege, die aus wesentlich anderen Umständen und Ursachen geboren wurde, und so gesdiieht es, daß die Labour-Regierung Hemmungen gegenübersteht, die weitaus mehr aus ihren eigenen Reihen kommen als aus jenen ihrer politischen, nicht sozialistischen Gegner.

Sozialismus in England hat aufgehört, ein theoretisches Programm zu sein; er ist heute ein Experiment, das auf das Verständnis und auf die Opferwilligkeit breiter Massen angewiesen ist und dessen Führer dabei erfahren müssen, daß schwieriger als die Sozialisierung von Betrieben, die Sozialisiert! ng dei menschlichen Egoismus ist. Wo die privaten Eigensüchte nicht durch die Erziehung der Menschen zur Solidarität überwunden sind, dort gibt es keine Sozialisierung, außer unter Zwangsmaßregeln. Dann aber beginnen sich die Unterschiede zwischen privatem Unternehmer und Machthaber Staat auf Kosten des arbeitenden Volkes zu verwischen.

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