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Argentiniens Tragödie

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Ware dem britischen General Pop-ham 1806, auf der Rückkehr von Südafrika, die Eroberung der spanischen Kolonie Argentinien im Kampf in den Straßen von Buenos Aires gelungen, die noch heute die Namen „Defensa“ und „Reconquista“ (Verteidigung und Wiedereroberung) führen, so wäre im Süden des Kontinents ein zweites Kanada entstanden, und das Schicksal der lateinamerikanischen Länder hätte eine andere Wendung genommen. Die Befreiungskämpfer San Martin im Süden und Bolivar im Norden konnten wohl die Länder befreien, aber nicht einigen. Eine Schicksalsstunde der Weltgeschichte, im Gegensatz zu der des Kongresses von Philadelphia, schlug vergebens. Splitterstaaten wurden wechselnder Flut und Ebbe politischen Dilettantismus und brutaler Despotie ausgesetzt, wie sie heute in Afrika drohen. In eineinhalb Jahrhunderte wurde eine Entwicklung zusammengepreßt, zu der die europäischen Länder ein halbes Jahrtausend gebraucht hatten. Der Vorrang der Pazifikländer wandelte sich in einen der Atlantikländer. Spanien hatte nur für das greifbare Gold in Peru und Silber in Bolivien Sinn, sah nicht die Möglichkeit von Weizen und Vieh in Argentinien. Seine Großstädte waren Lima und Asunciön, nicht Buenos Aires und Montevideo. Der Osten Südamerikas spielte dieselbe Rolle wie der Westen Nordamerikas.

Das noch leere Argentinien bezog wohl Menschen aus Südeuropa, Spanien und Italien, aber seine Wirtschaftskraft aus England. Britische Grundbesitzer entwickelten die Landwirtschaft, schottische Viehzüchter lehrten Viehzucht, englisches Kapital baute die Bahnen, englische Banken finanzierten das Land; kurz, Argentinien wurde auch ohne Eroberung von England entwickelt, dem sich erst viel später, im Abstand, Deutschland anschloß. Kaum jemand in Argentinien fühlt aber Dank für England, während die Anhänglichkeit an Spanien, dem Argentinien nichts, .zu.lyet,d3nken,,-hat als Einwanderer.s^fl fcnfl'^Srf^W^u immer ein politisches Schlagwort gebildet hat. Noch lange nach dem ersten Weltkrieg wurde jedes Bankett mit einem Toast auf den König von Spanien eröffnet.

Der Aufstieg aus der Not über den Feudalismus zum Kapitalismus wurde für dieses fleißige Volk zweimal unterbrochen: einmal in der Mitte des 19., dann wieder des 20. Jahrhunderts. Die Schreckensherrschaft von Rozas, einer Art von Nazismus ohne Antisemitismus und ohne Autobahnen, mit seiner SS, den „majorcas“, drohte die aufsteigende Intelligenz im Mittelstand zu vernichten, dem Volk sozusagen den Kopf abzuschneiden, wie es Juarez in Mexiko, Lopez in Paraguay tat, Gomez in Venezuela, Trujillo in San Domingo versuchten und jetzt Castro in Kuba in Angriff nimmt. Bis zum ersten Weltkrieg waren paranoische Diktatoren eine Spezialität Lateinamerikas, von Europa aus als eine Kuriosität dieser wilden Länder betrachtet, ohne Ahnung, wie bald sie importiert werden sollten, ohne deshalb dort zur Mangelware zu werden. Nationalismus plus Gewalt plus Erfolg hat eine eigentümliche Anziehungskraft auf diese Länder, ob sie nun als Faschismus, Kommunismus oder Fidelismus, alles Varianten derselben Seuche, auftreten.

Nach der Beseitigung des Tyrannen Rozas nahm Argentinien den größten wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung aller lateinamerikanischen Länder. Seine Struktur war etwa der eines größeren und reicheren Ungarns zu vergleichen, mit einem wachsenden Mittelstand starken intellektuellen Einschlags unter einer feudalen Oberschichte, großen Unterschieden zwischen der Bevölkerung der wenigen großen Städte und der des flachen Landes. Bis zum Beginn des Jahrhunderts wurde das Land von großen Staatsmännern gelenkt, dann nur noch von Politikern mit oft lächerlichen Zänkereien. Die Vertreter der Gesellschaft waren Anwälte, Ärzte, Kaufleute, Gutsbesitzer, die es an Bildung und Fernblick, wenn nicht an Zahl, mit denen jedes europäischen Landes aufnehmen konnten. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es wenige Länder auf der Erde, in denen die Menschenrechte, die Sicherheit von Leben, Freiheit und Eigentum besser geschützt waren als in Argentinien.

Wiederum wurde diese Entwicklung durch einen bösen Witz der Weltgeschichte unterbrochen. Einer der unfruchtbaren und unvorsichtigen Politikerstreite brachte ein Kondottiereehepaar zur Macht, das gemeinsam die Tradition Rozas mit modernen Mitteln neu belebte. Hier kann nicht das ganze verblüffend traurige System des Terrors und der Erpressung geschildert werden, das von einer Gruppe geld- und machtgieriger Konquistadoren eingeführt wurde, die die gebildeten Schichten des argentinischen Volkes, die auserlesenen Führer seiner Gesellschaft so behandelten und ausbeuteten wie die spanischen Konquistadoren die hilflose Indianerbiiv^lkerungi Es ist nicht übertrieben,, sondern dos- kumentarisen“ belegt, daß ein Regime von Mord, Marter, Raub und Erpressung das argentinische Volk mit Hilfe einer Schar von Anhängern knechtete, die dafür mit einem Teil der Beute entschädigt wurden. Trotzdem gelang es ihm, sich eine gewisse Vormachtstellung in Südamerika zu sichern, was eben keineswegs von der Qualität eines Regimes abhängt. Eva Peron wurde die größte Wohltätigkeits-schwirxilerin aller Zeiten, die ungeheure Summen unter dem Mantel der Wohltätigkeit erpreßte, davon einen Bruchteil zur Werbung von Anhängern verteilte und den Rest für ihre und ihres Gatten phantastische Geldgier und Luxus verwendete. Nach dessen Vertreibung wurden in seinem Besitz Kunstschätze, Juwelen, Autos gefunden, die einem Maharadscha des 18. Jahrhunderts Ehre gemacht hätten, ebenso wie der Hirschpark halbwüchsiger Mädchen, den er sich nach dem Tode seiner Gattin anlegte. Der größte Teil der Beute wurde aber im Ausland angelegt, wo heute der Mann, der als vermögensloser Offizier an die Macht gelangte, über Millionen verfügt, die ihm bei der Wiedereroberung des Landes gute Dienste leisten.

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