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Arme Schwester Posen!

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Am 14. Juni dieses Jahres erklärte der Direktor der Posener Messe, Stefan Askanas, „das Messefieber verspüre man auf allen Gebieten des Posener, Lebens“. Am selben Tag entstieg in Warschau dem Flugzeug, aus London kommend, Stanislaw Cat-Mackiewicz, noch vor einem Jahre Ministerpräsident der polnischen Exilregierung, Erzkonservativer und die federgewaltigste Persönlichkeit der Emigration. Am 16. Juni wurde die Posener Messe feierlich eröffnet, 35 fremde Länder nehmen an ihr teil, darunter auch die Deutsche Bundesrepublik, Oesterreich, Großbritannien, Frankreich, Italien. Am 18. Juni kündete der Erste Parteisekretär, Ochab — Bieruts Nachfolger —, der sich sonst sehr im Hintergrund hält, vor den Parteigenossen des schlesischen Kohlengebiets im noch immer nicht in Kattowitz rückbenannten Stalinogröd an, die Löhne der Kumpel würden um 15 Prozent gesteigert; das hatte zur Wirkung, daß, laut amtlicher Mitteilung, der seit etwa einem Monat rapid sinkende Tagesertrag der Kohlengruben am 25. Juni erstmals wieder die frühere Norm überschritt. Am 27. Juni versicherte „das Mitglied des Kollegiums des Außenministeriums“, , Katz-Suchy, bei einem Empfang polnischer und vor allem internationaler Zeitungsleute, darunter vor zur Posener Messe gereisten, die Grenzen Polens stünden Besuchern weit offen. Als einer der 14 deutschen Korrespondenten fragte, ob sich das auch auf die Bundesrepublik beziehe, wurde dies eifrig bejaht.

Von allen diesen Dingen stand in der polnischen Presse des langen und des breiten zu lesen. Nicht zu lesen war, daß aus mehreren Industriegebieten, besonders aus Posen, Deputationen nach Warschau gefahren waren, um verzweifelt und energisch gegen die unerträglichen Lebensbedingungen zu protestieren, insonderheit aber den wahnwitzigen Versuch, des Posener Parteigewaltigen umzustoßen, der im Hinblick auf den Uebergang von Waffenproduktion zur Herstellung von Friedensgütern für eine Anzahl Fabriken eine Herabsetzung der Löhne um 30 Prozent veranlaßt hatte. Nicht zu lesen war und ist von den nachhaltigen Bestrebungen des heute innerhalb des Regimes die Oberhand behauptenden Kurses, mit führenden Exilpolen Kontakt zu finden, und von den umgrenzten Erfolgen, die derlei Bemühen beschieden sein könnten, wenn die „Schneeschmelze“ auch im Sommer andauerte. Nicht zu lesen war ferner — aus sehr begreiflichen Ursachen, weil nämlich die polnische Geheimpolizei offenbar darüber nichts Konkretes wußte —, daß von einer der drei Richtungen innerhalb der polnischen Emigration eine Aktion vorbereitet wurde, und zwar seit geraumer Zeit, um an einem gegebenen Zeitpunkt, am geeignetsten Ort, den akuten Ausbruch wohlbegründeter Unzufriedenheit und die chronische, nur durch die Anwesenheit eines starken Machtapparats der kommunistischen Staatsführung an aktivem Widerstand verhinderte Feindseligkeit der Bevölkerungsmehrheit gegen das gesamte Regierüngssystem auszuwerten. Nicht zu lesen war vollends, daß dem radikalen, stalinistischen Flügel Unruhen ebenso erwünscht waren wie den nicht minder radikalen Kreisen auf der 'Rechten der polnischen Emigration. Die einen ergriffen mit Wonne die Gelegenheit, um darzutun, daß die „milderen“ Sitten, die seit einigen Monaten im politischen Leben Polens eingerissen waren, nicht zu einer grundsätzlich harten Diktatur paßten und daß, womit sie ja. keineswegs irrten, die weitaus überwiegende Majorität des Landes sowohl von der Gleichschaltung als auch von der sklavischen Abhängigkeit von Moskau genug hatte; daß Lockerung der Zügel unweigerlich dazu führen mußte, in westliche, wahrhaft demokratische, christliche, kurz in traditionell polnische Bahnen zu geraten. Die andern trachteten eine Entwicklung zu stören, die Polen, vielleicht auf friedlichem Wege, Besserung brächte und die jedenfalls schon bisher eine Atempause gewährt bat / \ „:

Und so geschah, was zwar nicht geschehen mußte und was — mögen sich auch von dieser Tragödie im Herzen Unberührte oder vor allem mit den Zusammenhängen Unbekannte darüber freuen — nicht hätte geschehen sollen. Der Staatspräsident im Exil, August Zaleski, hat über die Posener Unruhen das Richtige gesagt. Auch wir glauben, daß man edelstes Wollen, unzerstörbaren Freiheitssinn und Tapferkeit nicht daran hätte verschwenden dürfen, um im ungeeigneten Augenblick einen aussichtslosen

Kampf zu beginnen, der zwar seiner Genesis nach engste Verwandtschaft mit dem 17. Juni in Ost-Berlin zeigt, doch im Wesen viel eher an die heldisch-tolle Erhebung Warschaus gegen die Deutsche Wehrmacht im August 1944 erinnert. Immer wieder können Fremde — sei es in ehrlicher Trauer, sei es in scheinheiligem Bedauern — rufen: „Pauvre soeur Varsovie, tu es morte pour nous!“ Den Polen daheim, die glücklich waren, seit ein paar Morfaten etwas freier aufzuatmen, wäre es lieber, wenn man sie für sich leben ließe, statt für derzeit unverwirklichbare Ideale zu sterben...

Und es geschah nun also. Am 28. Juni früh entlud sich der berechtigte Ingrimm der Posener Arbeiterschaft in Streiks, die in blutige Unruhen mündeten. Zur gleichen Zeit flog der Generalsekretär der LINO, Hammarskjöld, über den Ozean auf Besuch nach Warschau. Der Moment war passend gewählt, um zu zeigen, daß es erstens der Arbeiterschaft in Polen schlecht ergeht, daß sie zweitens nicht ohne weiteres hinter dem Regime steht — und wenn schon sie, in deren Namen man regiert, also denkt, wie ist es erst rnit Bauern und mit ehemaligen Bourgeois beschaffen? Posen ist neben Krakau das geeignetste Terrain für antikommunistische Kundgebungen; die Leninisten bilden in beiden Städten eine verschwindende Minderheit.. Der leitende Beamte der UNO und die Messegäste samt den fremden Korrespondenten haben einen eindrucksamen Anschauungsunterricht erhalten. Insofern ist das Experiment geglückt. Doch war es dreihundert Menschenleben wert? (Wir vermuten, daß diese Zahl eher stimmt als die offizielle, allmählich bis auf fünf Dutzend gesteigerte.)

Vor allem aber: Welches werden die Folgen der Posener Erhebung sein? Wir befürchten sehr, daß'nun die Befürworter eines scharfen Kurses wieder das große Wort führen werden, allen besänftigenden Beteuerungen Cyrankiewicz' zum Trotz, der ja um seine eigene Position gegenüber den Scharfmachern kämpft. Mögen die Arbeiter einige ihrer materiellen Forderungen durchdrücken, die gesamte Atmosphäre wird sich in Polen bald wieder verschlechtern; vor allem deshalb, weil sich die bereits kühn gewordenen Politiker und Schriftsteller, Gelehrten und Künstler scheuen dürften, als Helfer der „fremden Agenten“ und der „Provokateure“ angeprangert und verfolgt zu werden. Schon liest man wieder ähnliche Anklagen in der sofort das Anziehen der Schraube zeigenden Tagespresse. Die wahren Freunde Polens und der Freiheit vermögen über den 28. Juni Posens keine ungetrübte Freude zu empfinden, wie sehr sie auch den alterprobten Heldenmut und die unausrottbare patriotische Freiheitsliebe der leidgeprüften Nation bewundem. Herr Askanas hat ungeahnte Prophetengaben offenbar:: Man verspürt das Posener Messefieber auf allen Gebieten, nicht nur Posens, sondern ganz Polens und darüber hinaus in allen Volksdemokratien; man wird es noch lange verspüren.

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