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Asyl in Schweden

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Schweden sieht sich mit einer Einwanderungswelle aus Tschechien konfrontiert. Nicht zuletzt die "Weihnachtsgruppe" stellt die schwedische Politik vor neue Herausforderungen.

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Schweden sieht sich mit einer Einwanderungswelle aus Tschechien konfrontiert. Nicht zuletzt die "Weihnachtsgruppe" stellt die schwedische Politik vor neue Herausforderungen.

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Allein während der Weihnachtsfeiertage meldeten sich bei der Polizei in Stockholm 48 Tschechen, die an der Skandinavienreise eines Reisebüros teilgenommen hatten, als Asylsuchende. Zwölf Mitglieder derselben Gruppe meldeten sich außerhalb Stockholms, und von zehn weiteren Personen nimmt man an, daß sie sich noch irgendwo verborgen halten und abwarten, wie die schwedischen Behörden reagieren. Von der ursprünglichen Reisegruppe sollen nur 22 die Heimreise angetreten haben. Dieses Emigrieren in großen Gruppen schafft natürlich viele Probleme: in erster Linie für die tschechischen Partei- und Staatsstellen, in zweiter Linie jedoch auch für die Schweden, die so allmählich ein Ausländerproblem beschwerlichen Ausmaßes auf den Hals bekommen.

In den letzten Monaten ist eine tschechische Einwanderergruppe nach der anderen in das Land gekommen. An einem einzigen Tag kamen 100 Flüchtlinge mit Hilfe der schwedischen Arbeitsmarktkommission von Wien nach Kalmar; Ende November wurden 200 weitere Tschechen in den Kurhäusern von Sätra Hälsobrunn nördlich von Västeräs einquartiert, weitere 300 sind unterwegs — oder inzwischen in Schweden eingetroffen — und werden in Umschulungslagern und Erholungsheimen untergebracht —, und nun sind also 70 weitere Asylsuchende aufgetaucht und mußten im Grandhotel in Mölle untergebracht werden.

Umschulungs- und Akklimationszeiten von einem bis drei Monaten kosten hohe Beträge. In vielen Fällen bezahlen die Sozialbehörden teure Hotelzimmer und Unterhaltsbeiträge. Die tschechischen Einwanderer können sich damit einer Fürsorge erfreuen, die den arbeitslosen Waldarbeitern oder den Grubenarbeitern des schwedischen Nordens nur selten zuteil wird. Es ist nicht verwunderlich, wenn nun Stimmen laut werden, die fragen, ob diese Fürsorgepolitik nicht zu einem Paradestück der schwedischen Einwanderungsbehörden geworden ist und ob man sich überhaupt die sozialen und auch politischen Auswirkungen dieser Politik schon einmal überlegt hat.

In einem großen Programm des schwedischen Fernsehens wurde das Problem behandelt, und es zeigte sich, daß nicht nur schwedische Arbeiter, sondern auch frühere Einwanderer über diese Entwicklung beunruhigt sind. In Ausländerkreisen befürchtet man, daß die ungehemmte Einwanderung zu einer allgemeinen Ausländerfeindschaft der Schweden führen könnte, zumal dann, wenn — wie im Falle der tschechischen Einwanderer — die Emigranten ganz offensichtlich ohne gründliche Prüfung aufgenommen und großzügig versorgt werden. Welchem schwedischen Arbeiter ist vor Übernahme einer neuen Aufgabe schon einmal eine Akklimatisierungszeit von ein bis drei Monaten bewilligt worden?

Sie wollen besser leben

Personen, die aus kommunistisch regierten Ländern kommen, haben keine Mühe, in Schweden als „politische Flüchtlinge“ klassifiziert zu werden, womit sie sich die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für unbegrenzte Zeit gesichert haben. Zum Vergleich kann genannt werden, daß die nach Kriegsschluß aus der Tschechoslowakei vertriebenen Sudetendeutschen, die nicht die geringste Möglichkeit hatten, in ihrer Heimat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren, in Schweden nur eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis von jeweils sechs Monaten erhalten haben — für die sie noch bezahlen mußten!

Bei den tschechischen Einwanderern nach Schweden handelt es sich in den meisten Fällen um Personen, die eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse anstreben. Das ist an und für sich begreiflich, klassifiziert diese Personen jedoch noch nicht als „politische Flüchtlinge“. Bei Gesprächen mit ihnen kann festgestellt werden, daß sehr viele von ihnen das kommunistische Regime immer noch bejahen, doch wünschen sie sich ein kommunistisches Regime nach Art des „Prager Frühlings“, etwa noch verschönert durch „kapitalistische“ Errungenschaften wie ein Familienauto oder die Möglichkeit von Urlaubsreisen nach Spanien oder nach Griechenland. Es ist auffallend, wie viele Personen aus der „Weihnachtsgruppe“ von Stockholm den Mittelschichten angehören, also Ärzte, Ingenieure oder gut bezahlte Spezialarbeiter sind. Bis Mitte Dezember sind im Jahre 1969 66.000 Personen nach Schweden eingewandert, das sind fast doppelt soviel wie im Jahre 1968, das ebenfalls schon einen Einwanderungsrekord gebracht hatte.

Der Großteil der Einwanderer ließ sich in den Großstadtregionen, also in und um Stockholm, Göteborg und Malmö, nieder. Und dieser Einwanderungsstrom ist gegen Ende des Jahres immer breiter geworden. Von Einwandererseite selbst kam in der oben erwähnten Fernsehsendung die Warnung, daß Schweden nun bald mit einer ernst zu nehmenden politischen Seite dieser Einwanderung konfrontiert werden wird. Man sprach von einer allzu gutgläubigen und naiven Einstellung der Einwanderungsbehörden. Erreicht die Zahl der Ausländer einmal 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, dann werden die „Neubürger“ auch politische Forderungen vorbringen und auf Beachtung ihrer kulturellen Wünsche drängen.

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