Atatürk-Waisen seit 70 Jahren

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Mustafa Kemal Atatürk stirbt am 10. November 1938 - 20 Jahre vorher formt er aus den Trümmern des Osmanischen Reiches seine Türkische Republik.

Kein halbes Jahr später wird Mustafa Kemal darangehen, den "kranken Mann am Bosporus" zu heilen. Im Juni 1918 kommt er jedoch selbst als Kranker nach Wien. "Splitternackt", wie er einem Freund schreibt, denn sein Gepäck war bei der Reise vollständig verloren gegangen. Mustafa Kemal sucht Hilfe beim berühmten Wiener Urologen Otto Zuckerkandl. Der vermag es, Kemals bakterielle Entzündung des Nierenbeckens soweit zu heilen, dass der osmanische "Armeeführer" zum Kuraufenthalt nach Karlsbad weiterreisen kann. Die Donaumonarchie liegt in den letzten Zügen, die Fronten brechen ein, die Niederlage im Krieg zeichnet sich ab - doch Karlsbad tanzt.

Und der Kurgast sieht darin eine Inspiration. Als er den "äußerst feinen, schönen, jungen Frauen" im Tanzsalon beim "Fourstep" mit Männern im Smoking zuschaut, fasst er den Entschluss: "Wenn mir eine große Verantwortung und Macht zufällt, glaube ich, dass ich in unserem Gesellschaftsleben die erwünschten Umwälzungen in einem Augenblick mit einem, Coup' umsetzen werde." Der Armeeführer hat Großes vor mit seinem Land, plant alles zu beseitigen, was ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nieren geht: "Nachdem ich so viele Jahre höhere Studien betrieben und das zivilisierte und soziale Leben untersucht habe, um die Freiheit ein wenig kennenzulernen, und darauf ein Leben und meine Zeit verwendet habe, soll ich auf die Stufe der einfachen Leute herabsteigen? Nein, ich werde sie auf meine Stufe heraufholen, ich möchte nicht wie sie werden, sie sollen werden wie ich."

Gralshüter des Kemalismus im Raumschiff

Algan Hacaloglu ist einer der Türken, die so geworden sind wie Mustafa Kemal. 1940, zwei Jahre nach dem Tod des türkischen Staatsgründers geboren, hat er sein Leben nach dessen Idealen ausgerichtet. Im amerikanischen Pittsburgh studiert er das "zivilisierte und soziale Leben". Heute ist er Parlamentarier und stellvertretender Generalsekretär der von Mustafa Kemal gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP).

Hacaloglu gehört zu den Gralshütern des Kemalismus. Mit seiner großen Brille, dem schütteren weißen Haar, dem karierten Sakko von anno dazumal und seiner ruhigen Sprechweise wirkt er eher wie ein Professor als ein Politiker. Sein Büro ist hoch oben im CHP-Parteigebäude in Ankara. Ein futuristischer Bau, der so ausschaut, als sei eine fliegende Untertasse gelandet oder dabei, wieder wegzufliegen - die Architektur mutet zu groß, zu üppig, zu übertrieben an. Dass der Taxifahrer dennoch erst auf den zweiten Anlauf und nach Rücksprache mit einem Kollegen die Parteizentrale findet, lässt keine guten Rückschlüsse auf die Bedeutung der CHP zu, die immerhin bis 1946 die einzige politische Partei in der Türkei gewesen ist und heute die größte oppositionelle Kraft stellt - bescheidene 98 der 549 Parlamentssitze.

Hacaloglu legt ein Dokument auf den Tisch - das neue Parteiprogramm. Gerade erst fertig geschrieben; die Ideen von Mustafa Kemal 90 Jahre nach ihrer ersten Formulierung in Karlsbad ins Heute übersetzt. Hacaloglu ist sehr froh über diese Parteistrategie. Als er darüber zu reden anfängt, ist er nicht mehr zu stoppen. Und stolz ist er auch, dass die CHP der regierenden AKP von Premierminister Tayyip Erdogan "mit diesem starken Papier" entgegentrete und in allen zentralen politischen Themen Paroli bieten werde.

Von einem "Coup", einem Staatsstreich, wie einst bei Mustafa Kemals Karlsbader Thesen, ist im CHP-Programm keine Rede. Hacaloglu begrüßt es, dass die Erdogan-Partei im Sommer dieses Jahres nicht verboten wurde: "Es ist besser so. Die AKP hat eine Lektion erteilt bekommen, und ich habe gehofft, sie lernt daraus - doch sie haben nichts gelernt." Die Entscheidung für oder gegen eine Partei in der Türkei muss an der Wahlurne fallen, sagt der Parteiideologe. Auch Mustafa Kemal habe immer die Zustimmung der Bevölkerung, des Parlaments gesucht, sieht Hacaloglu sich in bester kemalistischer Tradition.

Zurück aus Karlsbad muss Mustafa Kemal mitansehen, wie das osmanische Reich am 30. Oktober 1918 von den Alliierten im Waffenstillstandsabkommen von Mudros die totale Kapitulation aufgezwungen bekommt. Ort der Verhandlungen ist "His Majesty's Ship Agamemnon", Nelsons Flaggschiff in der Schlacht von Trafalgar. Und so wie Trafalgar Napoleons Untergang einleitet, ist mit Mudros der Untergang des osmanischen Sultans besiegelt. Mustafa Kemal sieht im Verlust seine Chance. Angesichts der alliierten Flotte im Bosporus ruft er aus: "Sie werden so gehen, wie sie gekommen sind!" Eine der Äußerungen Mustafa Kemals, "auf Grund derer ihm seine Anhänger gleichsam prophetische Gaben zumessen", schreibt Klaus Kreiser in seiner Atatürk-Biografie (C.H.Beck-Verlag).

Für CHP-Generalsekretär Hacaloglu ist Mustafa Kemal kein Prophet, aber "ein sehr kluger Mann, ein genialer Politiker und natürlich auch nur ein Mensch". Was er unter dieser Einschränkung genau versteht, führt Hacaloglu nicht weiter aus. Ihm geht es mehr um die von Mustafa Kemal hinterlassenen Prinzipien, weniger um die Person des Staatsgründers. Vor lauter Arbeit am Parteiprogramm ist er auch noch nicht dazugekommen, die Parteiinsignien hinter seinem Schreibtisch aufzuhängen - jetzt lehnen sie ein wenig verwahrlost an der Wand: ein gemaltes Porträt von Mustafa Kemal im Frack, ein Foto des Parteigründers mit sportlicher Schirmmütze und das Parteiemblem, sechs nach oben zeigende Pfeile auf rotem Grund, die sechs kemalistischen Leitprinzipien von Staat und Partei. Karikaturisten biegen die sechs Pfeile gerne zu krummen Haken um.

Hacaloglu sieht seine Aufgabe darin, sie wieder gerade zu schmieden. Dabei kann er auf wenig Unterstützung hoffen, denn nur in der Armee und in der CHP spürt er noch Mustafa Kemals Geist. Die Regierung, die Justiz hingegen stehe unter dem Einfluss und der Kontrolle von religiösen Gruppen, sagt Hacaloglu. Im US-Exil sitzen laut ihm die wahre Strippenzieher in der türkischen Politik: "Premier Erdogan ist ein starker Führer, aber was kann er machen? Er ist nicht frei!"

Befreiung ist das Atatürk-Programm

Freiheit ist der zentrale Begriff für Mustafa Kemal, Befreiung von äußeren und inneren Feinden sein Programm. Zur Niederschlagung von Aufständischen schickt der von seinen Besatzungsmächten geknebelte osmanische Sultan seinen besten Soldaten von Istanbul in den Osten des Landes. Weg von der Zentrale, erklärt sich der Armeeführer selbst zum Zentrum. Über Mustafa Kemal wird daraufhin von der höchsten muslimischen Autorität des Landes die Fatwa verhängt. Damit wird er offiziell zum Ungläubigen erklärt und zur Tötung freigegeben. Doch das Volk setzt auf Mustafa Kemal, macht ihn schon in der Anfangszeit der kemalistischen Revolution zum "Atatürk", zum Vater der Türken, gibt ihm den Namen, den er offiziell 1934 verliehen erhält.

Als General befreit Atatürk die Türken von den griechischen Invasoren und den alliierten Besatzern. Als Politiker entlässt er sein Volk aus allen Traditionen, die ihm als rückständig gelten: Er schafft das Kalifat ab, sorgt für die strikte Trennung von Staat und Religion. Der Gregorianische Kalender löst die Islamische Zeitrechnung ab, der Sonntag wird zum Ruhetag erklärt. Atatürk stellt sowohl auf das metrische System als auch auf die lateinische Schrift um, die Rechtsordnung allgemein und das Namensrecht im Speziellen krempelt er genauso um wie die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft.

Kaum 20 Jahre braucht Atatürk für diese Reformen, die andernorts jahrhundertelange Prozesse erfordern. Er darf auch nicht länger dafür brauchen, denn er hat keine Zeit mehr: Mustafa Kemal Atatürk stirbt am 10. November 1938. "Wir fühlten uns wie Waisen", sagte ein türkischer Zeitgenosse. Und viele von ihnen finden bis heute keinen neuen Vater, dürfen oder wollen keinen finden.

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