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Atlantikpakt, Europaföderation und die Ruhr

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Die Verhandlungen über den sogenannten Atlantikpakt stehen unmittelbar vor dem Abschluß oder sind bei Erscheinen dieser Zeilen bereits abgeschlossen. Der Vertrag besteht in einer Erweiterung des Brüsseler Verteidigungspaktes zwischen Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vom März 1948 durch Beitritt und militärische Garantien der Vereinigten Staaten und Kanadas. Die wesentlichen Bestimmungen dieser Vereinbarung, die offenbar nicht ohne Schwierigkeiten zustande gekommen ist, lassen, soweit sie bekannt sind, vor allem erkennen, daß die beteiligten europäischen Regierungen eine automatisch eintretende Verpflichtung zu militärischer Beistandsleistung nicht übernommen haben und daß die Regierung Truman, die seit der Präsidentschaftswahl einen entscheidenden Einfluß auf die Verhandlungen zu nehmen in der Lage war, mehr Wert auf die politische Wirkung als auf den militärischen Inhalt des Vertrages legre. Das Ergebnis erfährt daher auch in amerikanischen Kongreßkreisen ine recht verschiedene Beurteilung. Den einen geht das Abkommen nicht weit genug, da jedem Vertragspartner das Recht Vorbehalten bleibt, im gegebenen Fall zu entscheiden, ob er in einem Ernstfall den Vereinigten Staaten Waffenhilfe zu gewähren hat. Dagegen kritisieren andere das Versprechen militärischer Bürgschaften durch die Vereinigten Staaten an die Vertragsländer, bevor noch von einer Verwirklichung einer westeuropäischen Union politischen Charakters gesprochen werden kann.

Die darüber entstandene Diskussion verrät die Problematik, um deren Überwindung es bei den langwierigen Verhandlungen gegangen ist. Die Herstellung oder auch nur der Schein eines kausalen Zusammenhanges zwischen Atlantikpakt und europäischer Föderation mußte vermieden werden. Die lockere Form, die man aus diesen Gründen dem Atlantikpakt gegeben hat, rückt ihn so ‘nahe an die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen heran, daß er außerhalb dieser Weltorganisation im Ernstfall kaum wirksam sein könnte. Vom amerikanischen Standpunkte entspricht es auch durchaus demokratischer Politik, mit einem solchen Pakte die Einrichtung der Vereinten Nationen nicht zu entwerten, sie vielmehr zu stärken. Allerdings gibt es auch innerhalb der Demokratischen Partei Auffassungen, die dahin gehen, bei der heutigen internationalen Lage sei es besser, einen „kleinen" Völkerbund mit höchster Wirksamkeit zu schaffen, als an den universalen Grundsätzen einer Charta festzuhalten, die der Souveränität der Signatarstaaten noch immer einen viel zu weiten Spielraum läßt, um die rechtzeitige Verhinderung einer Aggression für alle Fälle sicherzustellen.

In der gegenwärtigen Fassung stellt der Atlantikpakt- weder eine Beeinträchtigung der Vereinten Nationen noch ein Präjudiz für eine vom Brüsseler Pakt unabhängige europäische Föderation dar, wie sehr auch seine militärischen Befürworter jenseits des Atlantiks eine solche Föderation zu betreiben bestrebt sind. Auch dieses große Unternehmen wird natürlich von der Tatsache überschattet, daß die meisten der Staaten, die für die erste Etappe eines europäischen Zusammenschlusses in Betracht kommen, die Marshall- Hilfe' nicht entbehren könnten. Indessen liegt es auch im Wesen des Marshall-Planes, daß er eine enge wirtschaftliche Kooperation der europäischen Staaten voraussetzt, wenn ein dauerhafter Erfolg erreicht werden soll. Wie eindeutig auch die Machtverhältnisse liegen, muß zur Ehre der Regierung Truman festgestellt werden, daß weder über den Weg der Marshall-Hilfe noch mittels der Verhandlungen über den Atlantikpakt der Versuch unternommen wurde, auf die europäischen Regierungen im Sinne einer rascheren Realisierung des Uniongedankens einen Druck auszuüben. Auf der anderen Seite gibt es in diesen europäischen Staaten, deren Regierungen im Punkte der Souveränität ihrem Metier gemäß empfindlicher sein mögen als die Völker selbst, ohne Zweifel viele Kreise, die der Ansicht sind, der Schneckengang, in dem auf eine europäische Föderation losgekrochen wird, stehe in argem Widerspruch zu den Zeitumständen. Diese Langsamkeit wird in offiziellen Verlautbarungen damit erklärt, daß über die Vorgangsweise grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zwischen der britischen und der französischen Regierung bestehen. Bevin trat bisher für die Schaffung eines aus Regierungsvertretern zusammengesetzten europäischen Konsultativrates ein, während die Franzosen und die Regierungen der Beneluxstaaten die Einberufung eines europäischen Parlaments befürworteten, das aus den nationalen Vertretungskörpern zu beschicken wäre. Wahr- sdieinlidi wird es zu einem Nebeneinander beider Methoden unter der Voraussetzung kommen, daß weder das Parlament noch der Konsultativrat bindende Beschlüsse zu fassen berechtigt sein werden. Vielleicht ist das eines der positiven Ergebnisse des letzten, so befriedigend verlaufenen Besuches des französischen Außenministers bei Bevin.

Ernste Schwierigkeiten würden einer europäischen Föderation aus jenen Differenzen gewiß weit weniger erwachsen als aus dem deutschen Problem. Den Sachwaltern des Marshall-Planes erschien bekanntlich die Einbeziehung der Ruhrindustrie in den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas als unerläßlich. Der amerikanische Wunsch nach einer möglichst weitgehenden Auswertung der Bodenschätze des Ruhrgebietes sowie des westdeutschen Arbeitspotentials und die französische Sorge vor einem Wiedererstarken Deutschlands, die auch durch die Vorarbeiten zu einer europäischen Föderation nicht beschwichtigt werden konnte, haben jenes Ruhrstatut hervorgebracht, das die einmütige Ablehnung aller deutschen Parteien erfuhr. Die machtpolitischen Verhältnisse und die ungeheuren Opfern, die Großbritannien und die Vereinigten Staaten der Verteidigung West-Berlins bringen, können dazu verleiten, diese deutschen Widerstände gegen das Ruhrstatut gering zu achten. Im Jännerheft der Londoner Revue „Soundings" stellt der britische Abgeordnete Nigel Birch den springenden Puikt mit aller wünschenswerten Deutlidikeit heraus. Er geht von der Untersuchung aus, ob ein unabhängiges Deutschland künftig eine potentielle Gefahr darstellen könne. Im Zukunftskriege seien drei

Faktoren von ausschlaggebender Bedeutung: die Bevölkerungsstärke, die industrielle Macht und die Zerstreuung seiner Industrie auf eine große Fläche. Ähnlich wie nach den napoleonischen Kriegen Frankreich einen Nachbarn, der stärker war, an seiner östlichen Flanke gehabt, so sei die Lage des künftigen Deutschlands. Der englische Autor legt dar, daß alle drei genannten Faktoren entscheidend für Rußland und nicht für Deutschland sprechen: „Rußland erfreut sich in weit höherem Maße als irgendeine andere Macht ihrer industriellen Ausbreitungsfähigkeit. Fabriken sind ununterbrochen im und hinter dem Ural im Entstehen, indessen Deutschlands industrielle Machtkonzentration in der Ruhr schon im letzten Kriege ein verzweifeltes Handikap dargestellt hat. In einem Atomkrieg ist das fatal. Trotz der Zerstörung und den Demontagen deutscher Fabriken hat Deutschland große Ressurcen, dennoch bleibt es höchst zweifelhaft, ob Deutschland in wenigen Jahren etwas besitzt, das dem industriellen Potential Rußlands gleichkäme." Aber noch viel stärker fällt der Faktor der Bevölkerungsstärke ins Gewicht; Birch erinnert an die Berechnung des Völkerbundes von 1944, daß im Jahre 1970 die Bevölkerung Deutschlands, selbst die alten Grenzen vorausgesetzt, nur 69,8 Millionen betragen wird, jene Rußlands hingegen

251 Millionen, dazu kommt noch der Landverlust des neuen Deutschlands und der ungeheure Landgewinn des neuen, von einem Kranz von Vasallenstaaten umgebenen Rußlands. Auch ein unabhängiges Deutsdiland nj.it einem solchen überlegenen Nachbarn an seiner Seite kann — so argumentiert Birch — in Zukunft keine militärische Bedrohung Europas darstellen. Außer — und hier weist Birch mit ausgestrecktem Finger auf die Gefahr, die durch eine fehlerhafte Außenpolitik der Mächte geschaffen werden kann: daß man Bestrebungen und Triebkräfte wieder erwecke, die irgendwie in den alten preußischen Traum einer deutsch-russischen. Allianz münden. Auf diesem düsteren Hintergrund müsse auch die gegenwärtige Auseinandersetzung über die Ruhr gesehen werden. Eine ebenso nüchterne wir ernste Erwägung. Es könnte beigefügt werden, daß man gewarnt sein sollte durch die Wirkungen des Unfriedensvertrages von Versailles und der unglücklichen Nachkriegspolitik der Mächte, die die Massen des deutschen Volkes dem Nationalsozialismus in die Arme trieb. Am Ende einer Periode der Härte, der Knebelung, der Ungerechtigkeit und der Verdemütigung eines ganzen Volkes stand Hitler. Eine entsetzliche Buße ist für die begangenen Fehler bezahlt worden. Man sollte nicht wieder bei Versailles beginnen.

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