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Digital In Arbeit

Au den Rand geschlieben

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RASCHER ABSCHIED. Recht schlicht und ohne den früher üblichen hochsommerlichen Gesetzestoriauf wird der Nationalrat schon in dieser Woche seine Session beschließen und nicht vor Mitte Oktober wieder zusammentreten. Uber die Bilanz der gesetzgeberischen Arbeit wird noch zu sprechen sein. Wir notieren auf der Habenseite immerhin die erfreuliche Grundsatzregelung des Protestantengesetzes (trotz des einen oder anderen Schönheitsfehlers), den hoffnungsvollen Ansatz einer neuen Geschäftsordnung des Nationalrates und das eine oder andere. Aber böse sieht es auf der Sollseite aus: Kein ERP-Ge-setz kam zustande, keine Einigung konnten die Parteien (nicht einmal in den eigenen Reihen) über das Pressegesetz erzielen und offen bleiben die sehr ernsten Fragen, die in der Debatte über den Rechnungshofbericht aufgeworfen wurden ... Lang ist der Weg bis in den Spätherbst hinein!

MAN HÖRTE EINANDER ZU. Ober die Beziehungen zwischen Österreich und Frankreich wurde — dem Vernehmen nach — beim Besuch Couve de Murvilles in Wien, der seinen gesellschaftlichen Höhepunkt bei einem zauberhaften Gartenfest im Palais Auersperg — zugleich dem Ausklang der diplomatisch-gesellschaftlichen „season" — fand, am wenigsten gesprochen. Man war sich schnell darüber einig, daß sie gut seien und eigentlich nur noch ausgebaut werden könnten. Um so ernster und intensiver dürfte das Gespräch gewesen sein, das der sachlich-elegante Gast — ein ernster Hugenotte und kein parlierender causeur im klischeehaften „Diplomatenstir — mit Dr. Kreisky und Staatssekretär Dr. Steiner führte. Die wirtschaftliche Lebensfrage der europäischen Integration war das Hauptthema. Die Sprecher Österreichs haben dem mit der Gabe des aufmerksamen Zuhörens ausgestatteten Gast die besondere Situation unseres Landes so klar gemacht, daß er sich beim Abschied nachdenklich über sein positives Verstehen der österreichischen Neutralitätspolitik äußerte. Bei den kommenden schweren Verhandlungen zwischen den Wirtschaffsblöcken werden wir in Couve de Murville einen verständnisvollen Beurteiler, vielleicht sogar einen Anwalt von größter Bedeutung finden. Aber auch, unsere Staatsmänner halten Veranlassung, sehr brnsf Und aúfmérkšařn' zuzuhören: dann nämlich, wenn der Gast von den schweren Bedrohungen der nächsten Monate, von der sich verschärfenden Berlinkrise und der festen Entschlossenheit seines Landes sprach, Freiheit und Recht an diesem Brennpunkt kompromißlos zu verteidigen. In einer wohlüberlegten und von Theaterdonner freien Rede hat Couve de Murville diesen Standpunkt auch der österreichischen Öffentlichkeit klar gemacht.

FÜR DEUTSCHLAND GESPROCHEN. Dem Präsidenten des Deutschen Bundestags, Dr. Gerstenmaier, gelang mit einer groß angelegten Rede noch einmal das, was die besten und besorgtesten Männer aller Parteien in Deutschland als ihre heimliche Sehnsucht ansehen: Er brachte es zu Wege, für die Minuten einer Abstimmung jene Einmütigkeit herzusfel-len, die sein Volk gerade in den nächsten Monaten so dringend brauchen würde. Zudem bedeutet die Resolution des Bundestages zur Zukunft des Landes ein Dokument, das auch die Großmächte, die sich ja doch einmal wieder zur Beratung über dieses Problem zusammenfinden werden, nicht von vornherein als unrealistisch abfun können. Deutschland bittet vor jedem Friedensverfrag um einen Statusvertrag, um die Festsetzung seiner Grenzen und um den Rahmen seiner nationalen Existenz. (Auch der österreichische Staatsvertrag ging ja von einer ähnlichen Rechtsauffassung aus.) Dadurch wäre die für jede frei gewählte deutsche Regierung prekäre Frage der Ostgrenze schon im Vorstadium aus der Welt geschafft. Aber das, was der freie Teil Deutschlands stellvertretend für die Landsleute in der Sowjetzone verlangen muß, ist die Freiheit bei der Wahl und Installierung einer verhandlungsfähigen deutschen Regierung. In diesem Punkt sind sich alle Parteien einig und an diesem Punkt scheiterte bis jetzt jedes Gespräch mit dem Osten, der bei einem solchen Wahlakt den moralischen Zu-sammenbručh seines Vertrauensregimes fürchten muß. Die Rede Ger-stenmaiers ist bis weit in den Herbst hinein der letzte, offizielle Beitrag, den die deutsche Volksvertretung in der sich dramatisch steigernden Auseinandersetzung um Berlin leisten kann. Was nun folgen wird, sind Reden im Wahlkampf, die leider um so gepfefferter und mit persönlichen Tiefschlägen garniert sein werden, als sie ja das sybaritische Ferienpublikum aus der Urlaubsidyllik aufpeifschen und an die Urnen treiben müssen.

IN TITOVO UZICE: Europa und die Welt haben in den Tagen um den 4. Juli 1941 andere Sorgen gehabt als die um das kleine westserbische Städtchen Uzice. Zwanzig Jahre später sieht man von Ost und West nach Titovo Uzice: die gesamte politische Führung Jugoslawiens hat sich hier versammelt, und gedenkt des 4. Juli 1941, an dem von hier aus Titos bewaffnete Erhebung gegen Hitler begann. Europa lag damals besiegt oder verbündet zu Hitlers Füßen. Wenige Wochen zuvor fielen die deutschen und verbündeten Armeen in Rußland ein. Titos Stern, sein Sowjetstern, begann aufzugehen, als sich dunkle Nacht über Rußland legte. In einem fast vierjährigen Kampf, der nicht zuletzt ein Bürgerkrieg mit den königstreuen Tschef-nikfruppen war, baute sich Tito eine eigene Armee auf, und gewann sein Land. Diese fundamentale Tatsache ermöglichte es ihm später, Stalin zu trotzen und sich bis heute den Russen gegenüber zu behaupten. Österreich ist mehrfach seit 1945 durch die Politik Jugoslawiens und um Jugoslawien betroffen worden. Triest und Südtirol wurden von West und Ost immer wieder unter diesem Gesichtspunkt: Wie kann man Italien gegen Jugoslawien stärken oder schwächen, anvisiert. Soeben haben sich Segni und Popovic in Belgrad getroffen, am letzten Wochenende, und in einem gemeinsamen Kommunique alle Länder aufgefordert, ihre Bemühungen für eine friedliche Lösung der Weltprobleme zu verstärken. Es ist leicht möglich, daß Segni da den Jqgpį(lawen auch sehr ,!deut ich Ita-..lieqj festen Standpunkt, seine „Lösung" der Südlßpl-Frage, darge-legf bat. Was in Wien Aufmerksamkeit verdient.

NACH ALTEM STIL. Man fühlt sich angesichts der plötzlich ausgebrochenen Kuweitkrise in ein anderes Jahrhundert versetzt, zumindest in den Beginn des unseren. (Auf den Tag genau vor fünfzig Jahren fand übrigens der „Panthersprung" von Agadir statt, mit dem das Deutschland Wilhelms II. die damaligen Großmächte in den letzten Großalarm vor 1914 versetzte.) Die sonst an allen Punkten des Erdballs mühelos nachzuweisende Frontlinie des Ost-West-Konflikfs ist im Wüstensand verwischt, die landläufigen Kampflinien zwischen „unterdrückenden Kolonialmächten” und „freiheitskämpfenden Unterentwickelten" sind durch Ol-fluten überspült. Es gibt kaum eine Macht, für die der Streit nicht eine besondere Verlegenheit darstellt. Die Engländer, die sich — ausgestaftef mit einigen Olverfrägen — soeben erst aus ihrer Protektoratstellung über das Sultanat von Kuweit zurückgezogen hatten, müssen nun Hals über Kopf als Schutzmacht einrücken und das Territorium des steinreichen Ölscheichs gegen die Drohungen des auf die arabische Brüderschaft pochenden irakischen Nachbarn verteidigen. (Mit Truppen übrigens, die sie von der europäischen Bereitstellung abziehen mußten.) Die arabischen Mitbrüder des Generals Kassem wissen auch nicht recht, was sie tun sollen. Einerseits zerspringt Nasser vor Neid und Wut beim Gedanken, daß der Rivale von Bagdad nun den Ölreichtum einstecken soll, andrerseits aber können die Nilsöhne nicht gut Schulter an Schulter mit den britischen Imperialisten kämpfen. Aber auch die Sowjets empfinden an diesem Befreiungskrieg keine reine Freude. Sollen sie sich wirklich für einen Kassem stark machen, der sich immer mehr zum „bürgerlichen Nationalisten" entwickelt und die Kommunisten im Lande offen verfolgt? Sollen sie, wie es Peking andeutete, also mit den Briten zusammen für den -Feudalherrn von Kuweit ins Feld ziehen? Ein Konflikt, an dem die längst ausgestorbenen klassischen Kabinetts-diplomafen ihre helle Berufsfreude hätten. Aber die Ideologen und Kreuzzügler aus Ost und West sind verlegen: In welches Schema soll man das alles einordnen? Von Welfrevo-lufion oder Abendland ist hier beim besten Willen nicht zu sprechen ...

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