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Auch auf nichtfriedlichem Wege...

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Selten noch wurde in den letzten Monaten abenteuerlicher und unseriöser über eine Angelegenheit berichtet und kombiniert, die gleichermaßen ideologischen wie weltpolitischen Charakter trägt, als über die kommunistische Resolution von Bukarest, die als Ergebnis einer Tagung kommunistischer Spitzenfunktionäre der Ostblockstaaten veröffentlicht wurde. Und doch handelt es sich bei diesem Dokument, dessen genauer Wortlaut zwar veröffentlicht wurde (ebenso wie die wichtigen Diskussionsbeiträge), dessen Nachdruck man sich aber größtenteils ersparte, um eine durchaus methoden- und systemgerechte Interpretation des Marxismus-Leninismus, die nur dem als Sensation erscheinen kann, der sich nie der Mühe unterzogen hat, dieses System gründlich und aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus zu durchdenken. Um das, was hier als Situationsanalyse und aktuelles Tatprogramm der marxistisch-leninistischen Parteien jener Staaten, in denen ein sozialistisches oder volksdemokratisches System herrscht, formuliert wurde, zu verstehen, bedarf es keiner „Geheiminformationen“, keiner Kremlastrologie und keiner besonders spitzfindigen Untersuchung. Man muß sich nur über einige Grundtatsachen im klaren sein, die an sich jedermann aus den theoretischen Schriften des Marxismus-Leninismus erfahren kann, die aber immer wieder vergessen oder durch scheinbar völlig „neue“ Sensationsdarstellungen des innerkommunistischen Bereichs im Bewußtsein verdrängt werden. Wer den Marxismus-Leninismus verstehen, wer ihn als einen praktisch-politischen Faktor richtig einschätzen will, bedarf dazu weniger des ausgedehnten Quellenstudiums als der Fähigkeit, dessen spezifische Gedankenbewegung mitvollziehen zu können, sich in die Art des Denkens und des Schlußfolgerns hineinzuversetzen, die dieses System charakterisiert. In diesem Sinn ist Chruschtschows vielbeachteter Satz während der Bukarester Diskussion, in dem er das reine Buchwissen vom Marxismus als unzureichend, ja irreführend bezeichnete und zum lebendigen Mitdenken aufforderte, konsequent leninistisch und marxistisch. Es war ja Engels selbst — von allen Vätern des Kommunismus vielleicht noch der am meisten zum Dogmatismus Neigende —, der das Wort sprach, daß der Marxismus kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln sei.

Gewiß soll hier nicht behauptet werden, daß die offenen oder versteckten Differenzen zwischen den einzelnen kommunistischen oder volksdemokratischen Staaten bei den gemeinsamen Parteientscheidungen keine oder nur eine belanglose Rolle gespielt haben. Auch die Vermutung, daß bei dieser oder jener Auseinandersetzung persönlicher Ehrgeiz, Eifersucht und anderes Einfluß gewann, ist in jenen Grenzen fichtig, die dem privaten Detail, der „Hintertreppe“ und den „Unterhosen“ in der gesamten Geschichte gezogen sind. Verfehlt aber wäre es, die Differenzen zwischen Moskau und Peking nach jenen Regeln und Erfahrungen zu beurteilen, die zwischen zwei Staaten bürgerlich-demokratischer und hochkapitalistischer Struktur gegolten haben oder hie und da noch gelten. Der Streit zwischen Frankreich und dem kaiserlichen Deutschland um das lothringische Erz konnte letzten Endes nur in einem militärischen Krieg ausgetragen werden, den weder eine Regierung noch ein Philosophenzirkel, weder Romain Rolland noch Gertrud Bäumer verhindern konnten. Hier aber handelt es sich um eine andere, neuartige Gesellschaftsordnung, in der zwar gewisse, durchlaufende Grundeigenschaften des Menschen und seiner Lebensfunktionen gleichgeblieben sind (wie etwa Hunger, Geltungsstreben, Sicherheitsbedürfnis usw.), innerhalb des Ganzen aber einen veränderten Stellenwert erhalten haben.,

Eine historische Anekdote aus einer parallelen Situation soll dies zu charakterisieren versuchen: Während der Kriege des revolutionären Frankreich nach 1792 kam es zu jenen entscheidenden Siegen der unter der Trikolore marschierenden Volksarmee über die Berufsheere der europäischen Fürsten, für den seit Goethes seherischem Ausspruch von der „hier und heute geborenen

Neuen Zeit“ die Kanonade von Valmy zum Symbol geworden ist. Bei einer Untersuchung der Ursachen für das katastrophale Versagen der Koalitionsarmeen ergab sich der dringende Verdacht, daß deren Oberkommandierender, der Herzog von Braunschweig, durch Sendlinge des Pariser Konvents bestochen worden sei und nur einen Scheinwiderstand geführt habe. Als diese Tatsache einem der Revolutionsgeneräle vorgehalten wurde, erwiderte dieser: „Wir hätten gesiegt, auch wenn der Herzog nicht bestochen gewesen wäre.“ Mit diesen trotz allem zeitbedingten Pathos ungemein scharf charakterisierenden Wort ist sehr zutreffend die Unanwend-barkeit bisher gültiger Maßstäbe auf eine neue gesellschaftliche Situation charakterisiert. Bestechung eines Söldnerführers, Entscheidung einer bataille durch vorherige Intrigen: das alles mochte in der Vergangenheit der sogenannten Kabinettskriege die ausschlaggebende Rolle gespielt haben. In der mit 1792 angebrochenen Ära der Volks- und Massenheere, die kaum ein Menschenalter später die allein bestimmenden Faktoren in fast allen Staaten wurden, verlor es seinen Stellenwert, konnte es die entscheidenden Aktionen bestenfalls hinauszögern oder beschleunigen, nicht mehr aber in ihrer Richtung verändern.

Wer also verstehen will, was die Bukarester Deklaration für die gesamte Welt, die ja so oder so mit ihren praktisch-politischen Auswirkungen konfrontiert werden wird, bedeutet, muß sich einige Grundthesen des Marxismus-Leninismus, die an sich kein Geheimnis sind, in ihrer Konsequenz vor Augen halten. Wir schreiben sie nieder, auch auf die Gefahr hin, Bekanntes oder Bekannt-sein-Sollendes auszudrücken.

THEORIE UND PRAXIS SIND UNTRENNBAR Das Wesen des Marxismus-Leninismus, das zugleich seine Unvergleichbarkeit mit jeder anderen politisch-philosophischen Doktrin der bisherigen Geschichte ausmacht, ist seine unbedingte und durchgängige Einheit von Theorie und Praxis. Es gibt in diesem System kein Denken, das nicht zugleich einen konkreten praktischen Imperativ bedeutet, und es gibt keinen Schritt politischen Tageshandelns, der nicht mit dem grundsätzlichen Endziel in Zusammenhang stände. Es ist falsch und abwegig anzunehmen, daß dieses weltimmanente, jede transzendente Wertsetzung außerhalb der Praxis strikt und grundsätzlich leugnende System jemals irgendein Mittel nicht wollen könnte, wenn es sich der Voraussicht nach als zielführend erweist. Eine grundsätzliche pazifistische Absage an den Krieg — absolut und unter allen Umständen ausgesprochen — ist daher undenk-bar. Weder Chruschtschow noch irgendeiner der als „milde Richtung“ bezeichneten Disputanten von Bukarest hat jemals so etwas gesagt. Er kann es gar nichr gesagt haben. Ebenso undenkbar aber ist auch der durch eine unsachliche Berichterstattung den • Chinesen zugeschriebene Standpunkt, aus irgendwelchen inneren Ursachen heraus den Krieg um jeden Preis zu wollen oder zur Beseitigung von internen Schwierigkeiten zu „brauchen“. Der Wortlaut der Diskussionsrede Peng-Tschens auf dem genannten Kongreß widerlegt dies übrigens auch dokumentarisch. Vollends falsch aber ist es, darauf zu spekulieren, daß die bestimmt vorhandenen wirtschaftlichen, einflußmäßigen, ideologisch-taktischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden marxistisch-leninistischen Zentren jemals in dem von uns absehbaren historischen Zeitraum der näheren Zukunft zu bewaffneten Auseinandersetzungen oder auch nur zu einem politischen Gegeneinander in einer entscheidenden Situation führen könnten. (Wir wagen eine solche Möglichkeit für den wirklichen Ernstfall auch im Hinblick auf Belgrad zu bestreiten, weil auch die jugoslawische Führung trotz aller Reform-und Eigenmaßnahmen im einzelnen das marxistische Grundkonzept nicht aufgegeben hat.)

Die universale 'Gültigkeit der marxistischleninistischen Konzeption hat aber nur sekundär mit dem zu tun, was man den „messianischen“ Weltherrschaftsanspruch nennt. Bei dieser Lehre handelt es sich nicht um eine innerweltliche Heilsbotschaft, die nun mit Feuer und Schwert oder auch mit der Kunst der Überredung allen Bewohnern des Erdballs nahegebracht werden soll. Marxistisch-leninistischer Auffassung gemäß geht die neue, zunächst sozialistische, später kommunistische Gesellschaft kraft immanenter Bewegungsgesetzlichkeit aus der bestehenden kapitalistischen zwangsläufig hervor. Kein Mensch aber kann bei dieser Entwicklung fatalistisch-passiver Zuschauer „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ sein (dies ist ja auch der Hauptvorwurf, den die., Kommunisten schon vor Jahrzehnten der als „zentristisoh“ bezeichneten österreichischen Sozialdemokratie, vor allem unter der ideologischen Führung Karl Kautskys, machten). Da nun jeder, auch wenn er weit davon entfernt ist, Kommunist zu sein, in diesem Weltprozeß eine Rolle spielen muß (lehnt er die revolutionäre ab, dann zwangsläufig eine reaktionäre), ist es klar, daß der Wille und die Leistung der einzelnen politischen Kräfte hier mit eingeplant ist. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus werden nicht müde, gegen den landläufigen „Materialismus“ zu polemisieren, der sich alle Entwicklung aus der Eigenbewegung der Materie aiff mechanistische oder biologistische Weise erklärt. Jeder solchermaßen in den Weltprozeß einbezogene Mensch ist in untrennbarer Weise zugleich Objekt und Subjekt der unaufhaltsam in Bewegung befindlichen Geschichte.

Die Streitfrage zwischen den einzelnen kommunistischen Parteien kann daher niemals eine wirklich grundsätzliche sein. Die Beurteilung, ob der für unvermeidlich und geschichtslogisch angesehene Sieg des Sozialismus, der aber gleichwohl zu seiner Erreichung der menschlichen Kraft bedarf, in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Land mit friedlichen oder — wie es in der vielgenannten Schlußresolution von Bukarest ausdrücklich heißt — mit, ,nichtfriedlichen“ Mitteln herbeigeführt werden kann, ist von nichts anderem als von einer Analyse der jeweiligen Umstände abhängig. Ohne Zweifel neigt Chruschtschow dazu, die augenblickliche Weltlage im kommunistischen Sinn „optimistisch“ zu beurteilen, das heißt die Anwendung kriegerischer Mittel nicht mehr für notwendig zu halten. Nun heißt aber „nichtfriedlich“ keinesfalls nur „kriegerisch“ im klassisch-militärischen Sinn. Nichtfriedlich kann auch ein Putsch, eine Revolte, eine das Land erfassende Revolution sein. Die Frage der jeweils gegebenen und notwendigen Mittel ist der des Zwecks völlig untergeordnet.

Man muß all diesen hier vielleicht mit etwas ermüdender Langatmigkeit aufgezeigten Grundthesen auch in unserer Welt weit mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher. Das marxistisch-leninistische Lager bildet, allen zuweilen sehr deutlich erkennbaren Differenzen, natürlichen Interessengegensätzen und Eifersüchteleien zum Trotz, eine in der Gemeinsamkeit der Zielsetzung zusammengeschweißte E i n-h e i t, die mit den traditionellen politischdiplomatischen Mitteln der Intrige, der Bündnis alance, der nationalistischen Zwietracht heute und im absehbaren Morgen nicht gesprengt werden kann.

Wer die Herausforderung dieser Welt beantworten will, darf sich auch nicht nur auf den bislang noch gegebenen Erfolg der Freien Welt im wirtschaftlichen Wettbewerb verlassen. Gesprengt und verwandelt kann diese lückenlose Einheit nur durch die Kraft einer geistigen Gegenkonzeption werden, die Theorie und Praxis zwar niemals zu der für den Christen unvollziehbaren Einheit des Marxismus zusammenschweißen und einen „Gegenkommunismus“ schaffen kann (die der grundlegende Denkfehler des heute so vielgenannten amerikanischen Publizisten Schlamm), die aber Denken und Handeln dennoch lebendig zu integrieren vermag, ohne die Eigenständigkeit eines dieser beiden Elemente zu verletzen.

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