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Auch eine historische Praxis

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OSTEUROPA UND DIE HOFFNUNG AUF FREIHEIT. Von Alfred Dome . Verlag Wissenschaft und Politik, Köln. 270 Selten. DM 12.80.

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OSTEUROPA UND DIE HOFFNUNG AUF FREIHEIT. Von Alfred Dome . Verlag Wissenschaft und Politik, Köln. 270 Selten. DM 12.80.

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Es ist nicht nur eine Erfahrung der Menschheit, sondern auch eine historische Praxis oder gar ein geschichtlicher Prozeß. Sucht nicht das Christentum heute fast 2000 Jahre nach der Geburt Christi noch immer nach einem neuen Weg? Das „Kommunistische Manifest“ wurde vor 120 Jahren proklamiert, die Oktoberrevolution hat erst vor 50 Jahren gesiegt. 2000, 120, 50 Jahre, was für kurze Zeitabschnitte im ganzen Entwicklungsprozeß der Geschichte der Menschheit! Der Marxismus — im Osten in Form von Sozialismus und Kommunismus — sucht heute nach einer oder mehreren neuen Formeln. Auch wenn man ihn als eine Art Quasireligion oder Pseudowissen- schaft brandmarkt, muß man doch zugeben, daß er auch eines der vielen Experimente der Menschheit ist, wie viele andere, die blutig oder unblutig durchgeführt wurden. Während man im „freien“ Westen langsam wieder zur Gewalt neigt, . glaubte man schon, daß sich der Osten der Vernunft nähere — lender brachten die jüngsten Vorgänge in der Tschechoslowakei einen empfindlichen Rückschlag.

Dieses Buch ist ein Sammelband der Vorträge der Konferenz im vergangenen Jahr. Außer dem Vorwort von Alfred Domes umfaßt der Band 20 Aufsätze (Vorträge), die in vier Sachgruppen gegliedert sind: Osteuropa im Kräftespiel der Weltpolitik, christliche Kirchen und totalitäre Herrschaft, Veränderungen in Osteuropa, kulturelle Aspekte des Wandels.

Der erste Aufsatz von Kurt Glaser ist eine Einführung zum Inhalt, so daß eine Buchbesprechung zu dieser Buchbesprechung nicht nötig ist. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß er seine Einleitung zu sehr mit Emotionen abgeschlossen hat, die beinahe an Beschimpfungen grenzen. Senator Thomas J. Dodd schreibt ebenfalls als Einführung „Die Vereinigten Staaten zwischen Europa und Asien“, worin er versucht, das Mißtrauen Westeuropas gegen die USA und umgekehrt zu bereinigen, dabei gibt er züm Schluß zu, daß es im Westen kein Ideal mehr gibt, außer der Angst, nicht mehr überleben zu können. Er vergißt, daß die Jugend in Ost- und Westeuropa doch einer neuen Hoffnung entgegensdeht.

Den ersten Teil des Buches kann man wiederum in zwei Komplexe einteilen: Osteuropa-Moskau-Peking (drei Aufsätze) und Westeuropa- Deutschland (vier Aufsätze). Boris Meissners Beitrag „Die Sowjetunion unter Breschnjew und Kossygin — Die Rolle der UdSSR heute“ analysiert von verschiedenen Aspekten die Maßnahmen des Duumvirats im Zeichen des Wandels des Kommunismus. Wenn man das ganze Problem dieses Wandels mit den vier Grundsätzen der materialistischen und historischen Dialektik betrachtet, kann man zur Tiefe der Frage verstoßen: Alles befindet sich in ständiger Entwicklung; alles hat innerliche Widersprüche; die Widersprüche können vereinigt werden; die Entwicklung kommt vom Quantitativen zum Qualitativen. Sowohl die UdSSR als auch Osteuropa befinden sich heute gerade in der Stufe zwischen quantitativen und qualitativen Änderungen. „Osteuropa im Kräftespiel der Weltmächte“ von Philip E Mosely ist eigentlich der Kem dieser Themengruppe, wobei er die gesamte Frage chronologisch behandelt. Dem Nationalismus in Osteuropa schenkt er große Aufmerksamkeit. Wu Chen-ts'ais Analyse über „Der Konflikt Moskau-Peking und seine Auswirkungen auf Osteuropa“ vertritt natürlich die Ansichten Taipehs, da er ein National Chinese ist. Doch durch den Vergleich zwischen Moskauer und Pekinger Prägungen in seinem Beitrag könnte man leicht für Moskau sympathisieren, was wahrscheinlich seine Absicht ist. Selbstverständlich fehlt in seiner Analyse nicht — wie das auch bei anderen Beiträgen in diesem Buch der Fall ist — die primitive antikommunistische Hysterie ä la Mac Carthy, die der wirklichen Lösung der Probleme nicht behilflich sein kann.

Der zweite Teil — Christliche Kirchen und totalitäre Herrschaft — umfaßt zwei Aufsätze: „Christlicher Glaube und totalitäre Herrschaft von Will Herberg und „Die Kirche unter totalitärer Herrschaft“ von Paolo Hnilica. Der erstere analysiert die Frage mit den antiken griechischen Theorien, darnach kann man dann nur den Schluß ziehen: die

totalitären Gedanken stammer eigentlich ja aus Europa. Dagegen isl der christliche Glaube seinem Ursprung nach eine asiatische Religior gewesen. Der zweite Beitrag ist fas! ausschließlich der Kirchenfrage ir der CSSR gewidmet, weil der Autai ein Slowake ist. Er legt dabei nicht: Analytisches dar, sondern erzähl! nur die Fakten chronologisch. Aus diesen zwei Beiträgen entstehen die Fragen: Was ist eine Verpflichtung (der Regierung oder der herrschenden Klassen)? Ist die christliche Verpflichtung heute der zweite antikommunistische (antisowjetische) Feldzug (der erste 1917!) der „heiligem Kreuzfahrer“? Weiches sind sind die vier Tiere der Offenbarung? Übei diese Fragen werden die Leser des Buches nach der Lektüre selbst Antwort finden. Auf jeden Fall muß gesagt werden, daß die Freiheit auch nicht absolut ist. Man bezeichnet der Westen gern als „freie Welt“. Nun frei vom Mord oder Freiheit für der Mord? Solche Argumente klinger fast verdächtig kommunistisch, doch man kann sie nicht einfach mit eine: • Vogel-Strauß-Politik ignorieren.

Der dritte Teil des Buches ist da: „Kolloquium über Veränderungen in Ostmitteleuropa“ unter der Leitung von Jerzy Hauptmann. Er schreib! dafür auch eine Einleitung „Möglichkeit und Grenzen der Entwicklung' sowie das Schlußwort „Wirkliche und scheinbare Evolution?“, worüber man nicht viel zu kritisieren braucht. Wertvoller sind die Beiträge über die Änderungen in den fünf osteuropäischen Ländern: Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik, die Volksrepublik Ungarn, die Volksrepublik Polen, die Sozialistische Republik Rumänien und die Sozia- listsche Föderative Republik Jugoslawien, jeweils von Heinrich Kuhn Helmut Klocke, Richard F. Staar Otto R. Liess und Johann Hawlo- witsch. Diese fünf Sachkenner untersuchen die Entwicklungen in dieser fünf sozialistischen Staaten aus wirtschaftlicher, politischer, außenpolitischer, religiöser, außenhandelspolitischer, sozialer und militärpolitischei Sicht, wobei natürlich von den Beziehungen dieser Länder zu der Sowjetunion und zu Westdeutschlanc beziehungsweise der EWG im Vordergrund stehen. Nun zur Frage vor Jerzy Hauptmann — „Sind die: wirkliche oder scheinbare Evolutio

nen?" Man kann diese Frage nicht von der geschichtlichen Entwicklung isoliert beantworten. Wer das tut, kann oder will die Frage gar nicht richtig beantworten. Der vierte Teil der Konferenzbeiträge sind Eugen Lembergs „Der geistige Wandel im Marxismus-Leninismus Ostmitteleuropas“ und Eugene Davidsons „Das ewige Gestrige“. In dem ersten hat Lemberg neben dem Wandel und Polyzentrismus in Osteuropa und der UdSSR auch über den Linkskatholizismus und den Existentialismus Westeuropas gesprochen. Man soll bei der Beantwortung dieser Fragen nicht aus dem Gemeinsamen die Unterschiede suchen, sondern das Gemeinsame aus den Unterschieden finden. Nur so ist ein Dialog zwischen den Christen und Marxisten im Westen selbst und zwischen West- und Ostmitteleuropa möglich. Dafür sind manche Ausdrücke in diesem Buch viel zu hart, starr und unversöhnlich, was der wirklichen Verständigung kaum dienen dürfte. Das Thema des letzten Beitrags besagt auch, daß der Autor sich manchmal doch mit dem Gedanken der geschichtlichen Entwicklung beschäftigt hat. Besonders auffallend ist seine

Beurteilung des heuchlerischen und pharisäerhaften Charakters der UNO, die die Volksrepublik China bis heute nicht zugelassen hat. Nicht nur der „Ostblock“ existiert heute nicht mehr, auch der Begriff „Eiserner Vorhang“ in Ostmitteleuropa hat Löcher bekommen; er soll mit dem Tod seines Erfinders, Sir Winston Churchill, gleichzeitig dahinschwinden. Natürlich beurteilt man dieses Problem nach eigenen und persönlichen Erfahrungen. Zum Thema „Wandel der kommunistischen Staaten in Osteuropa“, besonders in Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslowakei, wird man sich überlegen: Die Führer dieser Staaten führen die Reformen vielleicht unfreiwillig und unbewußt durch, nämlich, daß gerade dieser Wandel, also politische Demokratisierung und wirtschaftliche Liberalisierung, dem Sozialismus und Kommunismus neue Impulse und Antriebe gibt und ihn gegenüber den Jugendlichen und Intellektuellen Westeuropas wieder attraktiv machen kann, die allmählich mit ihren eigenen „Establishments“ unzufrieden sind.

Im allgemeinen vertreten Fachleute dieses Buches ausschließlich den Stand- und Gesichtspunkt der BRD, was das Buch wenig objektiv macht.

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