6661807-1960_11_20.jpg
Digital In Arbeit

Auf dem Weg nach Europa?

Werbung
Werbung
Werbung

Es bedarf eines guten Orientierungssinnes, sich im Gestrüpp der europäischen Integration zurechtzufinden. Die Idee des Zusammenschlusses wird durch egoistische, kleinliche, berechtigte und ungerechtfertigte Forderungen und Ansichten beinahe verschüttet. Die Franzosen sind mit der EWG zufrieden, von der sie nur Vorteile haben. Wenn es zu einer großen Freihandelszone gekommen wäre, hätten sie etliches abstreichen müssen, daher waren sie dagegen. Die Briten hingegen klügeln immer neue europäische Lösungen aus, die ihre Commonwealth-Präferenzen nicht gefährden, mag sein, daß bei ihnen noch irgendwo — im Unterbewußtsein? — die alte Idee vom Gleichgewicht in Europa mitspielt. Die Amerikaner fürchten einen europäischen Protektionismus und wollen eine atlantische Wirtschaftsgemeinschaft, möglichst die ganze westliche Welt umfassend. Die Russen wiederum sind dagegen, weil sie vielleicht spüren, welche geistigen und materiellen Kräfte in Europa noch vorhanden sind, wieviel potentielle Energie der alte Kontinent noch hat, wie dynamisch er sein könnte, wenn sich seine Länder zusammenschließen.

Ökonomisch ist das Problem klar, die Vorteile eines größeren Marktes liegen auf der Hand, das erkannten nicht nur Wirtschaftstheoretiker. So erklärte Ende 1949 der damalige ECA-Ad-ministrator Hoffman vor der OEEC: „Das Kernproblem eines solchen (europäischen) Wirtschaftszusammenschlusses läge in der Bildung eines einzigen großen europäischen Marktes, in dessen Bereich alle Beschränkungen hinsichtlich der bewegten Gütermenge, alle Währungsschranken im Zahlungsverkehr und schließlich auch alle Zollgrenzen für immer zu verschwinden hätten.. . Die Schaffung eines dauernden Freihandelsgebietes, das 270 Millionen Verbraucher in Westeuropa umfaßt, würde unzählige günstige Folgen zeitigen ... Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Schritt die physische Struktur der europäischen Industrie nicht ändern oder von heute auf morgen die Produktivität ungeheuer erhöhen würde, aber die grundlegende Veränderung des wirtschaftlichen Milieus würde meiner Überzeugung nach doch ein schnelles Wachsen der Produktivität einleiten...“ Im zweiten Bericht der OEEC vom Februar 1950 heißt es: Es ist möglich, die Produktionsleistung der europäischen Industrie zu erhöhen, indem man in großem Umfang sorgfältig ausgewählte Investitionen vornimmt und verschiedene besondere Maßnahmen anwendet, die hauptsächlich auf die Normung, auf die größere Verbreitung technischer Kenntnisse usw. abzielen. Die Verbesserungsmöglichkeiten werden jedoch begrenzt bleiben, wenn Westeuropa nicht gleichzeitig die Vorteile der Spezialisierung und eines größeren Marktes wiederfinden kann.. .Schließlich ist es erforderlich, gemeinsam die Investitionsprogramme zu prüfen und sie, wo es angebracht ist, aufeinander abzustimmen, um die beste Nutzung der westeuropäischen wirtschaftlichen Mittel zu gewährleisten.“

In dem Jahrzehnt, das seit diesen Ausführungen verstrichen ist, wurde in Europa viel getan, um die Wirtschaft wieder aufzubauen. Strukturell gesehen, gelangen aber nur graduelle Verbesserungen und keine prinzipiellen. Trotzdem hat die europäische Wirtschaft einen schier unfaßbaren Aufschwung erlebt. Einige österreichische Zahlen genügen, um diese Behauptung zu beweisen. Im Jahresdurchschnitt 1952 betrug der Produktionsindex der österreichischen Industrie 167,1 (1937: 100), 1959 betrug er 264,6. Die Produktivität stieg im Zeitraum von 1950 bis 1959 von 100 auf 147. Das Bruttonational-produkt zu Preisen von 1951 wuchs von 1951 bis 1958 von 66,4 Milliarden auf 96,5 Milliarden Schilling.

Nunmehr ist Europa auf dem Weg — ökonomisch gesehen —, einen weiteren prinzipiellen Schritt zu tun, und es hat den wirtschaftlichen Zusammenschluß begonnen. Aus verschiedenen, vor allem politischen Gründen entstanden zwei Gebilde: eine Zollunion, die EWG, und eine Freihandelszone, die EFTA.

Die EWG existiert seit dem 1. Jänner 1958 und versucht auf dem Umweg über einen wirtschaftlichen Zusammenschluß eine politische Lösung der europäischen Frage zu erzwingen. Der Zusammenschluß in Form einer Zollunion ist für diese Bestrebungen zweckmäßig. Eine Zollunion erfordert zumindest einen gemeinsamen Zolltarif nach außen und Abbau der Zölle zwisehen den Mitgliedstaaten. Die EWG wird daher auch einen gemeinsamen Zolltarif nach außen einführen. Dies bedingt eine gemeinsame Wirtschaftpolitik öder zumindest doch eine weitgehende „harmonisierte“, da ansonsten das in einer Zollunion auftretende wirtschaftliche Koordinationsproblem nicht gelöst werden kann. Der gemeinsame Außentarif der EWG wird etwa dem arithmetischen Mittel der bisherigen Zölle der Mitgliedstaaten entsprechen, da nach den Grundsätzen des GATT ein höherer gemeinsamer Zolltarif einer Zollunion unzulässig ist. Neben der stufenweisen Beseitigung der Zölle werden auch die mengenmäßigen Beschränkungen im Handel und Verkehr der Mitgliedstaaten abgeschafft. Die Freizügigkeit im Personen-, Dienst-leistungs- und Kapitalverkehr soll hergestellt, eine gemeinsame Agrar- und Verkehrspolitik durchgeführt werden.

Die Mitgliedstaaten der EWG haben eine sehr ähnliche Wirtschaftsstruktur und, wie Untersuchungen ergaben, war die wirtschaftliche Entwicklung in der Gesamtheit der EWG-Staaten viel dynamischer als in den Mitgliedsländern der EFTA. Es ist anzunehmen, daß sich diese Entwicklung in Zukunft eher verstärkt fortsetzen und den wirtschaftlichen Vorsprung der EWG-Länder vergrößern wird. Wahrscheinlich werden jene Industrien, in denen sich besonders große optimale Betriebsgrößen durchgesetzt haben, wie etwa in der eisenschaffenden Industrie, Ölindustrie, Aluminiumindustrie, chemischen Industrie, Elektroindustrie, um einige Beispiele zu nennen, Absprachen untereinander treffen; wirtschaftliche Großgebilde werden entstehen, möglich, daß es internationale Kartelle oder Konzerne sind. Die Frage der Kontrolle dieser geballten Wirtschaftsmacht soll hier nicht erörtert werden. Um ein aufschlußreiches Beispiel anzuführen: die eisenschaffende Industrie der ' EWG-Staaten wird ihren Konzentrationsgrad noch weiter erhöhen, obgleich die Konzentrationsbestrebungen auch schon durch die Montanunion gefördert wurden. Ende 1957 wurden 75 Prozent der deutschen Rohstahlproduktion von 8 Konzernen erzeugt, in Frankreich produzierten 8 Konzerne gar 82 Prozent des insgesamt erzeugten Rohstahls. Wenn man dann noch die vertikale Konzentration dieser Konzerne berücksichtigt, existieren hier bereits jetzt wirtschaftliche Großgebilde, die einen nicht unerheblichen Einfluß auf den Ablauf des Wirtschaftsprozesses haben. Die Entwicklung wird sicherlich dazu führen, daß man schon recht bald die herkömmliche Ansicht über Kartelle wird ändern müssen.

Schon eine lediglich ökonomische Betrachtung ist unvollständig, wenn das Problem der Macht nicht berücksichtigt wird. In einer Zollunion ist es sehr leicht möglich, daß kleinere Länder handelspolitisch durch größere Partner beherrscht werden können. Dies muß keinesfalls überlegt und gezielt vor sich gehen. Die Dynamik und der Expansionsdrang wirtschaftlicher Großunternehmungen und überhaupt großer Volkswirtschaften führt dazu, daß immer neue Betätigungsfelder gesucht werden, daß die Macht immer mehr ausgeweitet wird. Eine Erscheinung, die in jeder großen Volkswirtschaft zu beobachten ist, gleichgültig, in. welcher Form sie organisiert ist.

Eine Freihandelszone ist ein weniger enger Zusammenschluß. Es vereinigen sich mehrere souveräne Staaten, um die Zölle und auch sonstige Handelshemmnisse für den Handelsverkehr mit jenen Produkten abzuschaffen, die aus Mitgliedsländern stammen. Gegenüber dritten Staaten haben die Mitglieder einer Freihandelszone völlig freie Hand zur Gestaltung ihrer Handelspolitik. Wenn auch, wirtschaftlich gesehen, der Entschluß zum Beitritt zu einer Freihandelszone leichter gefaßt werden wird als zu einer Zollunion, da pjotektionistische und fiskalische Belange in erheblich .geringerem Ausmaß berühft werden, weist die Freihandelszone, schon der Konstruktion nach, erhebliche Nachteile auf. Da die beteiligten Länder eigene Zollpolitik mit verschieden hohen Sätzen betreiben, wird die Einfuhr von Drittländern in die Freihandelszone den Weg des geringsten Zollhindernisses nehmen. Mit Hilfe von Ursprungszeugnissen soll dies verhindert werden.

Aber die Problematik liegt nicht darin, daß eine Integrationsform der anderen unterlegen ist — das zu sagen, wäre absurd —, sondern, daß in Europa zwei Integrationsformen nebeneinander existieren. Wenngleich die EFTA vor allem deshalb gegründet wurde, um den europäischen Nicht-EWG-Ländern einen leichteren Brückenschlag zur EWG zu ermöglichen, kurz, um die Verhandlungsposition zu stärken. Das europäische Problem kann nur komplex gesehen werden, um es zu verstehen. Eine Gruppe will die politische Einigung, die andere möchte vorderhand nicht so weit gehen, um möglichst jede souveräne Einbuße ihrer Mitglieder zu vermeiden. Sind die Kräfte in Europa, die eine politische Einigung herbeiführen wollen, so stark, daß es unaufhaltsam ist, dann hilft kein Tüfteln und Klügeln, dann muß Farbe bekannt werden. Für einen politischen Zusammenschluß sind die Kräfte nicht ausreichend, wird die raffinierteste wirtschaftliche Integrationsform ohne Inhalt bleiben. Ist das der Fall, wird wahrscheinlich mit vielen Hindernissen die Politik des Zollabbaues weitergeführt werden.

Eines jedenfalls steht fest: die Entscheidungen, die in absehbarer Zeit fallen müssen, sind folgenschwer für die Zukunft Europas. Ein kleiner Staat, wie Österreich, der nicht oder nur in sehr bescheidenem Maße den Lauf der Dinge beeinflussen kann, wird gut daran tun, sorgfältig zu prüfen und abzuwägen, was heute oder morgen entschieden werden muß. Jeder Versuch, mit billiger Demagogie und oberflächlichen Argumenten für irgendeine Lösung zu plädieren und präjudizieren ist verantwortungslos.

Nur die werden das Richtige treffen, die die durchhaltenden Richtlinien der Realität spüren und aus einem tiefen Wissen um ihre Verantwortung entscheiden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung