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Aufbruch in ein neues Zeitalter

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Atem — Waffen oder Isotope? Von Gordon Dean. Bohrmann, Industrie- und Fachverlag,Wien. 276 Seiten. Preis 7S S

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Atem — Waffen oder Isotope? Von Gordon Dean. Bohrmann, Industrie- und Fachverlag,Wien. 276 Seiten. Preis 7S S

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Unter den zahlosen Schriften über die erregende Frage der Verwertung der Atomenergie nimmt das Buch von Gordon Dean einen besonderen Platz ein. In Amerika, und in zahlreiche Sprachen übersetzt, hat es großes Aufsehen erregt. Der Verfasser war 1950 bis 195 3 Vorsitzender der amerikanischen Atomenergiekommission, jener mit weiten Vollmachten ausgestatteten Behörde, die in den vom Kongreß bewilligten Grenzer und in Kontakt mit den militärischen Stellen die Entwicklung des gigantischen Atomprogrammes zu leiten hat. Er berichtet in fesselnder Weise, in allgemeinverständlicher und doch höchst aufschlußreicher Art über die Entwicklung bis 1953, mit Ausblicken in die Zukunft. Es ist überraschend, mit welcher Offenheit und Unbefangenheit über die politischen, militärischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Seiten des Programmes gesprochen wird, wieviel Zahlen und interessante Einzelheiten mitgeteilt werden. Bis zum Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima waren ungefähr 1,5 Milliarden Dollar in das Projekt investiert worden, bis 1953 hatte es bereits das Zehnfache der Kosten des Panamakanals verschlungen und heute hält es bei einer Investition von zirka 9 Milliarden Dollar. Mehr als 65.000 Menschen waren allein 1953 bei Bauten des Atomprogrammes beschäftigt, drei Uran-2 3 5-Erzeugungswerke verbrauchen täglich mehr als viermal soviel Strom wie die ganze Stadt New York Diese wenigen Kostproben zeigen, daß nur so riesige Wirtschaftskörper wie die USA und Rußland sich ein solches Programm leisten können. Man hat das peinliche Gefühl, daß bei großen politischen Entscheidungen, die unter dem Gewicht der unausgesprochenen Kriegsdrohung mit Atomwaffen getroffen werden, selbst größere Staaten, von den kleinen ganz zu schweigen, nichts mehr mitzureden haben werden. Die Jagd nach dem Uran steht am Beginn des Verfahrens. Es ist fast überall vorhanden, zwei von seinen Hauptlagerstätten sind in westlicher, mindestens eine dritte in östlicher Hand. Von da bis zur Atombombe führt ein weiter Weg von wissenschaftlicher Arbeit, Investition von Material, geschulten Arbeitskräften und Geld, noch etwas verteuert durch die Geheimhaltung (mit dubiosem Erfolg*). In Amerika geschieht dies alles auf freiwirtschaftlicher Grundlage, im Osten mit den Mitteln des totalitären Apparates. Man ist erschüttert, wenn man daran denkt, was alles mit diesen gigantischen wirtschaftlichen Anstrengungen sonst hätte geleistet werden können. Vielleicht die Hungersnot in Indien gebannt oder die Sahara bewässert oder Brot und Friede für die farbigen Massen in Südafrika oder all das zusammen (etwa im Sinne des Faureschen konstruktiven Abrüstungsplanes).

So aber beschränken sich die friedlichen Segnungen der Atomenergieverwertung bis jetzt hauptsächlich auf die Gewinnung radioaktiver Isotope verschiedener Elemente, deren große Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung, die Medizin und Industrie der Verfasser in anregender Weise schildert. Im Rahmen des Atomenergieprogrammes wurde die medizinische und biologische Forschung mit 20 Millionen Dollar jährlich unterstützt.

Die Verwertung der Atomenergie zur Produktion

* Für die vorbereitende Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kernspaltung allein wurde im Fiskaljahr 1954 der Betrag von 1 Milliarde Dollar ausgeworfen.von Wärme und zum Antrieb von Motoren, die angesichts des Schwindens der Kohle- und Oelvorräte der Erde vielleicht schon in absehbarer Zeit die letzte Lösung bringen muß, steht allerdings noch im Stadium der Vorversuche und Modellanlagen, deren Leistung und Zukunftsaussichten besprochen werden. Tröstend meint der Verfasser, daß man ja vielleicht einmal das aktive Material aus den unzähligen aufgestapelten Bomben für diese Zwecke entnehmen könnte. Denn bis heute, so sagt er ganz offen, stehen all diese ungeheuren Anstrengungen in West und Ost so gut wie ausschließlich im Dienste der Produktion von Atombomben und anderen Atomwaffen. Als Amerikaner ist er felsenfest davon überzeugt, daß dies der einzige Weg war, den Weltfrieden bisher zu erhalten und ihn auch weiterhin zu sichern. Theoretisch kann man die zerstörende Kraft der neuen Wasserstoffbombe nach Belieben erhöhen. Ein Exempel dafür soll ja demnächst im Pazifik vorgeführt werden, wobei die Sprengkraft der Bombe die Gesamtmasse der im Krieg über Europa abgeworfenen Sprengstoffe um das Zweieinhalbfache übertreffen soll. Der Verfasser ist der optimistischen Ansicht, daß dieses Wettrüsten mit Atomwaffen ein natürliches Ende haben werde, wenn eine Macht so viel Atombomben aufgehäuft hat, daß sie die gesamte industrielle Produktion des potentiellen Gegners zuverlässig vernichten könnte.

Und was wird dann geschehen, bis beide „potentiellen Gegner“ so weit sind? So denkt der Leser mit dem zeitgemäßen „großen Unbehagen“. Woher soll die Macht kommen, die die kriegerische Verwendung dieser Mittel verhindern soll? In dieser Welt, in der die ständige Erhöhung des materiellen Lebensstandards das fanatisch verfolgte Ideal aller politischen Parteien und das Idol der Menschen geworden ist, in der Verträge als wertlose Papierfetzen gelten I Auf der von der Gloriole des Pharisäertums umstrahlten Genfer Konferenz für die friedliche Auswertung der Atomenergie wurde es dem berühmten amerikanischen Genetiker und Nobelpreisträger Muller verboten, sein Referat über die Gefahren der Erbschädigung durch die Strahlungen beim Atomzerfall, zum Beispiel bei Atombombenversuchen, vorzutragen, mit der Begründung, daß er in diesem Referat den Bombenabwurf auf Hiroshima erwähne, und dies auf einer solchen Konferenz nicht angezeigt sei. Die amerikanische wissenschaftliche Welt hat sehr energisch auf diese Brüskierung reagiert und dal Bedenkliche einer solchen Gesinnung angeprangert. Es fiel das harte Wort des Vergleiches mit der Drosselung der freien Wissenschaft in Rußland durch Lysenko. Ein glaubensloser Amerikaner gestand dem Referenten, er schätze die katholische Kirche sehr hoch, da sie seiner Ueberzeugung nach der einzige Faktor sei, einen Atomkrieg verhindern zu können. Wer dies angesichts der wiederholten ernsten Mahnungen des Heiligen Vaters von der zeitlichen Erscheinungsform der Kirche allein erwartet, wird wohl enttäuscht werden. Die Kirche ist keine Versicherungsanstalt für die bürgerliche oder kollektivistische Prosperität vor den Konsequenzen ihrer eigenen gottlosen Gesinnung. Wie groß ist heute die Zahl der Menschen, die nach dem Vorbild des Herrn lieber Unrecht leiden wollen als Unrecht tun? Wo ist das Volk, das seinen Führern einmütig den Gehorsam versagen würde in dem Augenblick, in dem diese die erste Atombombe werfen? Was hat man in den letzten Jahrzehnten von der Macht der Propaganda und Massensuggestion alles erlebt? M*n denkt an die Wehrufe Christi über Jerusalem! - Has Buch von Gordon Dean sollte jeder lesen, es regt zum Nachdenken an.

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