6780052-1969_39_09.jpg
Digital In Arbeit

Aufstand gegen Rom oder Calvin?

19451960198020002020

Wer die jetzigen Vorgänge im holländischen Katholizismus betrachtet, muß den Eindruck haben, daß es sich hier um einen eklatanten Aufstand gegen Rom handelt. Wer aber Holland gut kennt, wird in dieser Ansicht wankend werden und bei näherer Betrachtung der Umstände vielleicht zu der Ansicht kommen, daß es sich nicht so sehr um einen Aufstand gegen Rom wie gegen Calvin handelt.

19451960198020002020

Wer die jetzigen Vorgänge im holländischen Katholizismus betrachtet, muß den Eindruck haben, daß es sich hier um einen eklatanten Aufstand gegen Rom handelt. Wer aber Holland gut kennt, wird in dieser Ansicht wankend werden und bei näherer Betrachtung der Umstände vielleicht zu der Ansicht kommen, daß es sich nicht so sehr um einen Aufstand gegen Rom wie gegen Calvin handelt.

Werbung
Werbung
Werbung

Das holländische Leben ist undenkbar ohne seinen calvinistischen Hintergrund. Der Holländer mußte im Laufe seiner Geschichte in härtesten Kämpfen immer wieder sein Dasein behaupten. Es waren zunächst einmal die Naturgewalten, die sein Leben bedrohten. Es war das Meer, das sein Land immer wieder überflutete und dem er nur mühsam immer wieder ein Stück Land abringen konnte. Neben den Naturgewalten waren es die politischen Mächte, die gleich einer Flut immer wieder sein Land zu verschlingen drohten: die Spanier, die Franzosen, die Deutschen. Im Kampf gegen die Naturgewalten oder politischen Gewalten erkannte der Holländer, daß nur eine sehr gute Teamarbeit ihm Chancen gab, diesen Gewalten zu widerstehen. So wurde der Holländer durch seine Geschichte geradezu gezwungen, ein geborener Teamarbeiter zu sein. Der Holländer weiß auch, daß innerhalb eines solchen Teams sehr harte Gesetze gelten können und er, der die Freiheit über alles liebt, ist bereit, freiwillig die härtesten Gesetze auf sich zu nehmen, um eine erfolgreiche Teamarbeit zu ermöglichen. Für einen Menschen, der sich ununterbrochen bedroht fühlt, war die Lehre Calvins direkt auf den Leib geschrieben. Diese Lehre mit ihrer hohen Auffassung von der Pflichterfüllung und vor allem mit ihrer Ansicht, daß der Erfolg das alleinige Zeichen sei, ob Gott einem Menschen gnädig wäre, wiar natürlich der geborene Lebensstil für Menschen, die immer wieder einen Erfolg gegen natürliche oder politische Gewalten erringen mußten. So sind alle Holländer, mögen sie Protestanten, Katholiken oder Atheisten sein, im Grunde genommen Calvinisten. Diese Komponente darf im holländischen Katholizismus nicht übersehen werden. Er hat nichts von der Genialität des französischen, nichts von der Humorfülle des irischen, nichts von der Großzügigkeit des römischen und nichts von der heiteren Schlamperei des flämischen oder österreichischen.

Kirche der kleinen Leute

Bei der Betrachtung des holländischen Katholizismus darf auch die soziologische und politische Komponente nicht vergessen werden. Der holländische Katholizismus der Neuzeit hat keine große Vergangenheit. Als im Gefolge der Französischen Revolution 1796 in den Niederlanden die Religionsfreiheit für alle Dissenters (Christen, die nicht der Staatskirche angehörten) eingeführt wurde, waren die Katholiken im eigentlichen Holland eine verschwindende Minderheit. Sie machten höchstens 10 Prozent der Bevölkerung aus. Daneben gab es allerdings zwei Provinzen, nämlich Limburg und Brabant, die fast vollständig katholisch waren. Aber diese Provinzen hatten innerhalb der Niederlande keine Gleichberechtigung, sie hatten eigentlich den Status von unterworfenen Gebieten. Die Katholiken aus den eigentlichen Niederlanden rekrutierten sich in erster Linie aus Bauern, Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten und Arbeitern. Nur in den beiden Städten Amsterdam und Rotterdam gab es eine verschwindende, den höheren Ständen angehörende Schicht von Katholiken. Die Katholiken der Niederlande setzten sich somit zum Teil aus kleinen Leuten zusammen und aus Angehörigen von Provinzen, die politisch nicht gleichberechtigt waren. Und dieser Geruch der kleinen Leute einerseits und der politischen Minderheit anderseits blieb dem holländischen Katholizismus während des ganzen 19. Jahrhunderts und auch noch weit in das 20. Jahrhundert hinein anhaften. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermehrte sich die Anzahl der Katholiken immer mehr, vor allem auf natürliche Art. Das holländische Volk erlebte innerhalb des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Art Bevölkerungsexplosion, die sich bei den Katholiken noch besonders stark auswirkte. Denn bei den Katholiken war jede Abtreibung und jede Empfängnisverhütung strengstens verpönt und Kinderreichtum ein erstrebenswertes Ziel. Familien mit 12 und 16 Kindern waren keine Seltenheit und Familien mit vier Kindern galten als eine Kleinstfamilie. Begreiflich, daß dadurch der Anteil der Katholiken an der holländischen Bevölkerung von den 10 Prozent immer höher stieg und schließlich 45 Prozent erreichte. Aber diesem imponierenden Bestandteil der Bevölkerung haftete doch nach wie vor der Geruch der „second-class-people” an. In „vornehmen” Staatsdiensten, wie in der Marine, in der Diplomatie, in der Justiz, traf man deshalb in den seltensten Fällen Katholiken an. Die katholische Intelligenz, die langsam heraufwuchs, erschöpfte sich darin, Priester, Lehrer, Professoren, Ärzte und Kaufleute zu stellen.

Dem offiziellen Holland erschienen die niederländischen Katholiken nicht nur soziologisch als eine zweitklassige Schichte, sondern auch politisch. Zunächst stammten viele Katholiken aus den zwei genannten Provinzen, die fast den Status von Kolonien hatten. Aber auch sonst wurden sie politisch als suspekt angesehen. Das uralte Trauma der Spanienkriege wirkte hier noch nach. Man vermutete, daß die holländisehen Katholiken in der Tiefe ihres Herzens es doch bedauerten, daß einst Herzog Alba Holland nicht erobert habe. Auch vermutete man, daß sie den Papst in Rom als ihren eigentlichen Herrscher ansahen. Ein Umschwung in diesem Denken trat erst 1918 ein, als im protestantischen Teil Hollands eine starke Strömung zur Errichtung der Republik auftrat und es die soviel geschmähten katholischen Provinzen und die katholischen Regimenter waren, die die Existenz des Königtums retteten.

Katholisches Getto

Aus kleinen Anfängen wuchsen so die holländischen Katholiken zu einem immer bedeutenderen Teil des,Landes empor, aber sie lebten praktisch in einem Getto. Eingeschlossen von dem offiziösen Holland, das sie als eine zweitklassige und politisch nicht ganz emstzunehmende Schicht betrachtete. Dieses Getto wurde immer größer, aber auch immer perfekter. Es hatte ein großartiges eigenes Schulsystem von der Volksschule bis zur Hochschule, es hatte großartige Krankenhäuser und Altersheime, eine imponierende Presse, schließlich einen eigenen Rundfunk. Diese Leistung war durch die typische Teamarbeit holländischer Katholiken erreicht worden. Auch in diesem Team hatten sehr harte Gesetze gegolten, ähnlich den harten Gesetzen eines niederländischen Orlogschiffes des 17. Jahrhunderts und die Kapitäne dieses Schiffes, die Bischöfe, konnten sich in der Härte ihrer Regierung ruhig mit den Kapitänen der alten Schiffe vergleichen. Erbarmungslos wurde jeder Katholik, ob Priester oder Laie, von ihnen gemaßregelt, der gegen diese harten Gesetze verstieß. Gemaßregelt wurde aber auch jeder Katholik von den eigenen katholischen Mitbürgern, wenn er sich diesen Gesetzen zu entziehen trachtete. Ein holländischer katholischer Kaufmann hätte es zum Beispiel niemals wagen dürfen, seinen religiösen Pflichten nicht nachzukommen, auch wenn er innerlich längst Atheist war. Sein Geschäft wäre von allen Katholiken sofort gemieden worden und er wäre wirtschaftlich ruiniert gewesen.

Dieses Getto schien gefestigt nach allen Seiten, bis plötzlich, wie so oft in der holländischen Geschichte, eine Flut hereinbrach, die alles Bestehende niederzureißen schien. Was war geschehen?

Ich muß hier zwei kleine Ereignisse einflechten, die ich selbst erlebt habe: Es war ungefähr im Jahre 1950, als eine kleine Gruppe Österreichischei Journalisten nach Holland kam und bei ihrer Reise auch den Leiter des katholischen Schulamtes, der praktisch der holländische katholische Unterrichtsminister war, einen Monsignore Op den Coul, besuchte. Es war gerade 10 Uhr vormittags und, wie überall in Holland um diese Zeit, wurde auch hier Kaffee getrunken und wurden dicke Zigarren geraucht. Es war sehr gemütlich. Monsignore schilderte das wirklich imponierende katholische Schulsystem. Bei der sich entwickelnden Diskussion fragte ein Österreicher: „Was hat ein Lehrer zu tun, der an eine bestimmte Schule kommen möchte oder irgendein Fach erlernen will?” Das gemütliche Gesicht des Monsignore verschwand im Nu, ein harter Zug kam zum Vorschein, als er sagte: „Hier hat niemand etwas zu wollen, sondern jeder das zu tun, was ihm aufgetragen wird.” Die Österreicher waren etwas betreten und als sie den Monsignore wieder verließen, fragte mich einer der Journalisten: „Und Sie glauben, daß Sie mit dieser Disziplin alles bewältigen werden, was auf uns zukommt?” Ich glaubte es damals noch…

Und das zweite Erlebnis: Es war auch, in den fünfziger Jahren, als eine kleine Gruppe holländischer Katholiken nach .Wien kam. bischof-Koadijutor Dr. Jäcnym zusammen. Bei diesem Gespräch schilderten die Holländer begeistert die Erfolge des holländischen Katholizismus. Es war ein perfekter Wehrmachtsbericht mit lauter Siegesmel dungen. Mit unbeweglichem Gesicht hörte sich der hohe Kirchenfürst diesen Bericht an. Als aber eines der Mitglieder der Gruppe sagte, daß die Katholiken, die einst nur 10 Prozent der Bevölkerung ausmachten, jetzt schon 45 Prozent erreicht hätten und bald vielleicht 60 Prozent umfassen würden, unterbrach der Wiener Kirchenfürst die Rede und sagte mit einer Spur Sarkasmus in seinen Worten: „Fürchten Sie sich vor dem Augenblick, da Sie die Mehrheit erreichen werden.” Die Holländer schwiegen etwas betreten, da sie diese Worte nicht verstanden. Aber im Grunde genommen, hatte der Wiener Erzbischof-Koadjutor den Kern der Sache erfaßt.

Der holländische Katholizismus hat jetzt eine Größe erreicht, daß er nicht mehr in einem abgeschlossenen Getto leben kann. Wie eine Meeresflut überflutete ihn die Welt, vor der ihn bisher die Mauern des Gettos geschützt hatten. In dieser neuen Situation war es unmöglich über diese Katholiken noch mit den harten Gesetzen zu regieren, die für ein niederländisches Orlogschiff des 17. Jahrhunderts gegolten hatten.

Die neue Flut ln diesem Zusammeniprall mit der Welt schien alles zu schwinden, was bisher als richtig gegolten hatte. In dieser Situation kam auch das zweite Gesicht des Holländers zum Vorschein. Denn dieser so harte Team- arbeiter hat nur zu oft auch die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. Der Ausdruck dieser Sehnsucht ist das holländische Haus mit seinen schönen Möbeln, seinem schönen Geschirr, seinem guten Essen und seiner Gemütlichkeit. Das Haus, in dem der Holländer inmitten seiner Familie sich von den Stürmen des täglichen Lebens ausruhen kann.

Der holländische Katholik hatte es einfach satt, auch in seiner Kirche immer nach den harten Gesetzen eines Teams zu leben. Er wollte einmal auch die mütterliche Geborgenheit der Kirche um sich fühlen. Und da die offizielle Kirche sehr hart mit ihm verfahren war, stand er gegen diese offizielle Kirche auf. Aber ist dieser Aufstand im Kern wirklich ein Aufstand gegen Rom, ist er nicht vielmehr ein Aufstand gegen den calvinistischen Geist innerhalb des holländischen Katholizismus, der unter sehr schönen römisch-katholischen Kirchengewändern verborgen war? Denn der holländische Katholik, der jetzt gegen seine offizielle Kirche auftritt, möchte im Grunde seines Herzens nichts anderes als von einem holländischen Orlogschiff des 17. Jahrhunderts mit seinen harten Gesetzen umsteigen auf das Schiff Petri, mit seiner Mütterlichkeit, auf dem es zwar von Sündern wimmelt, aber das doch in erster Linie durch die Meere der Welt fährt, um die Kinder dieser Welt von der Insel der Sündhaftigkeit zum Land der Heiligkeit zu bringen.

Wer alles dies beachtet, wird den schweren Zelten, die der holländische Katholizismus jetzt durchlebt, vielleicht frtit mehr Ruhe gegereüfoer- -Stehen als es sonst möglich wäre. Gewiß, bei dieser Sturmflut wird vieles, auch kostbares Gut zugrunde gehen. Aber bei einer Flut geschieht dies immer. Wichtig ist, daß die Kirche Hollands aus dieser Flut besser heraussteigt als sie es vorher war. Dazu aber bedarf es Männer, die einerseits vom besten holländischen Geist beseelt sind, aber auch anderseits Verständnis für die Hintergründe der tiefen Bewegung haben, die den holländischen Katholizismus erfaßt hat. Dazu bedarf es Männer, die von einer unwandelbaren Treue zur Kirche beseelt sind; aber auch von einer tiefen Liebe zu dem guten holländischen Volk. Es bedarf mit einem Wort eines neuen Augustinus, der der letzte Römer genannt würde und dem es gelang, die großen Werte Roms für ein Jahrtausend nach Europa hinüberzuretten.

Der holländische Katholizismus brachte in einer ähnlich chaotischen Zeit schon einmal eine solche Figur hervor. Es war Erasmus von Rotterdam. Wo ist der holländische Augustinus von heute, wo ist ein neuer Erasmus von Rotterdam?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung