6625680-1956_07_01.jpg
Digital In Arbeit

Austro-Neutr alismus ?

Werbung
Werbung
Werbung

Das neue Jahr hat Europa nach einem Schein-,frühling scharfen Frost gebracht. Sibirische Kälte wölbte ihren Schleier über unsere Hemisphäre. — Der kalte Krieg schien gerade zu Beginn dieses Jahres wieder aufzuleben. Berlin wurde wieder aktuell, in jenem harten, düsteren Sinn wie vor wenigen Jahren. Die Wahlen in Frankreich zeigten einen neuerlichen Anstieg der kommunistischen Wählet stimmen. In Westdeutschland alarmierten die Wahlen in einem der größten Betriebe der Schwerindustrie den Westen. Genf, der „Geist von Genf“, scheint da unter den Massen eisigen Mißtrauens begraben. Darf es da wundernehmen, wenn die eisige Zugluft — im Westen verschärft durch das Debakel der französischen Regierungen und die offensichtlichen Mißerfolge Englands in Zypern und im Nahen Osten — gerade auch Oesterreich berührt? Oesterreich, dem es, nicht zuletzt durch die Politik seines Kanzlers, gelungen war, im Vorjahre den Würgegriff des kalten Krieges zu lockern?

Die unfrohe Botschaft kam uns vorerst über London zu: die üble Mär vom „Austro-Neutra-lismus“. Oesterreich versuche, so hieß es da im Bericht des Wiener Korrespondenten einer englischen Massenzeitung, sein Geschäft mit beiden Seiten zu machen und Kapital zu schlagen aus seiner Neutralität. Oesterreich mißbrauche seine Neutralität, um immer mehr Geschäfte mit dem Osten zu machen; und verrate dergestalt den Westen.

Nun. bleiben wir einen Augenblick bei unseren englischen Freunden: sie haben soeben mit allen Ehren ihren bedeutenden Publizisten Wickham Steed zu Grabe getragen und ihm noch über das Grab hinaus seine Hellsichtigkeit und Klugheit nachgerühmt. Es ist heute, in der freien Welt, nicht nur an uns Oesterreichern, England daran zu erinnern, wie unermeßlich dieser große Hasser Oesterreich und dem Westen geschadet hat, er und seine Freunde um Seton-Watson und andere Engländer, die Altösterreich mit zu Grabe getragen hatten, wobei ihr Leitmotiv war: Oesterreich kümmere sich zuwenig um den Osten, um die slawischen Völker ... Wenn Oesterreich einmal, vielleicht in einer Art Weißbuch, seine West-Ost-Beziehungen in den letzten hundert Jahren darstellen wird, dann wird der eigentümlichen Rolle nicht zu vergessen sein, die gerade englische Gegner Oesterreichs in der Verunklärung dieser Beziehungen gespielt haben.

Kehren wir aber zur Gegenwart zurück.

Die Anschuldigung, Oesterreich betreibe allzuviel Geschäfte mit dem Osten, trifft faktisch nicht das Rechte — der Prozentsatz des Osthandels Oesterreichs ist immer noch sehr gering, verglichen mit dem Westhandel unseres Landes —, diese Anschuldigung nimmt sich aber merkwürdig genug aus. wenn man ihren Hintergrund besieht: Die amerikanischen Vorwürfe gegen England, es selbst betreibe mit China, Rußland und anderen Ostländern einen Handel, der sich nicht mit den Aufgaben der Verteidigung der freien Welt vereinbaren lasse, bilden den rechten Flügel dieses Hintergrundbildes, seinen linken nehmen die massiven englischen Interessen am niederösterreichischen Erdöl ein.

Die österreichische Oeffentlichkeit hat ein Recht, es' zu erfahren, und eine österreichische Presse hat die Pflicht, es immer wieder nüchtern zu vermelden: sehr viel von det ,,Sorge“ mancher Freunde unseres Landes ob der Wahrung und Verteidigung unserer Neutralität läßt sich genau berechnen in Pfund und anderen harten Währungen. Es geht um Oesterreichs Bodenschätze, vor allem um unser Erdöl. Die Rechtsgrundlagen für Zistersdorf und andere Schürfrechte in Niederösterreich vor 1938 sind durchaus erst abzuklären, bevor hier ein letztes Wort gesprochen werden kann. Das böse Schlagwort „Austro-Neutralismus“, das eben besagen will, Oesterreich treibe auf Kosten des Westens unerlaubte Geschäfte und Beziehungen mit dem Osten, geht also einmal auf eine sehr eindeutige Stellungnahme gewisser Geschäftsinteressen zurück. Zum anderen aber ist es, seiner Herkunft, Prägung und Lancierung -nach, ein Wort, das in Oesterreich und seiner nächsten Umgebung geprägt wurde und das, nebenbei bemerkt, von Wien aus nicht ungeschickt nach altbewährtem Muster in die ausländische Presse lanciert wurde. Auch hier wäre es vielleicht bald an der Zeit, den Vorhang — es ist gar kein Eiserner Vorhang, sondern ein Vorhang aus alten Lügengeweben — zu heben: nicht nur vor 1918, sondern gerade in Oesterreichs schwerem Existenzkampf bis 1938 fanden sehr zweckgerichtete Greuelmeldungen über Oesterreich, gebraut in den Kochtöpfen des Austronazismus, sehr schnell ihren Weg in die Presse Englands und des Westens. Aehnlich ist es auch jetzt wieder gewesen. Das Wort „Austro-Neutralismus“ wurde wenige Tage nach dem Moskauer Abschluß des österreichischen Kanzlers Raab geprägt, es war die erste sichtbare Reaktion auf den Schock, den die Erklärung der Neutralität Oesterreichs in gewissen Kreisen ausgelöst hatte. Diesen war von allem Anfang an die Neutralität Oesterreichs ein Dorn im Auge. “Also galt und gilt es, diese zu denunzieren. Im Auslande dadurch, daß man die Führung unseres Staates zu diskreditieren sucht, indem man ihr ein Abgleiten ins östliche Fahrwasser unterstellt. Im Inlande dadurch, daß man die verständliche Angst bre;fester Kreise vor einer Bolschewisie-rung geschickt ausnutzt und, in vielen Farben und Tönungen, leise und gnnz leise zunächst, nun laut und immer lauter, in unser Volk und in alle Welt hineintönt: Oesterreich ist in Gefahr! „Der Kanzler ist den Russen gegenüber zu .weich'. Nur ein schleuniger Anschluß an den Europarat usw. (über dieses .und so weiter' spricht man sich nicht allzu deutlich aus) kann uns retten.“

Beachten wir für einen Augenblick die Tatsachen. Oesterreich in Gefahr? Gewiß: auch Oesterreich ist in Gefahr. Genau so wie Italien, Frankreich, Deutschland,, England, wie sehr viele Völker und Staaten auf der ganzen Welt. Gefahr des Atomkrieges, Gefahr innerer und. äußerer Zersetzung — von einem fernen Zentrum planmäßig gelenkt —, Gefahren in der Wirtschaft ... Diese Gefahren sind gegeben. Kein Mensch kann sie ganz aus der Welt schaffen. Um sie aber zu mindern, hat die österreichische Regierung im Sinne aller Gutgesinnten sich zur Neutralität bekannt. An uns liegt es, diese Neutralität mit Sinn und Gehalt, mit Widerstandskraft zu erfüllen. Mit Widerstandskraft unseren unberatenen Freunden wie unseren etwaigen Gegnern gegenüber. (Eine Seite dieser Widerstandskraft ist zweifelsohne auch die militärische. Hier muß ein etwas rascheres, unbürokratischeres Vorgehen bei der Aufstellung des Bundesheeres sicher als wünschenswert bezeichne!! werden.)

In den letzten Tagen und Wochen hat ein wohlvorbereitetes Kesseltreiben rings um den Kanzler eingesetzt: „Unabhängige“ und Sozialisten haben sich, wie nicht selten in den letzten Jahren, vereint, um die Führung der ersten Regierungspartei unter Druck zu setzen. Oesterreich müsse, um seine Kreditwürdigkeit dem Westen gegenüber zu beweisen, schleunigst dem Europarat beitreten .,.

Weiß man wirklich nicht, was das heißt? Der Europarat ist leider immer noch liiert mit der Politik, die zuerst zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft führen sollte und dann mit zur NATO geführt hat. Wenn Oesterreich das täte, betriebe es eine Politik, die ihm morgen schon jeden guten Kredit in West und Ost rauben müßte: der Westen, tys heißt die einsichtigen, weitsichtigen Kreise des Westens, würden mit vollem Recht sagen: Da, seht her, diese Herren Oesterreicher! Jetzt schon haben sie Angst vor ihrer eigenen Courage! Und da kommen sie und fliehen unter die Fittiche unserer Wehr und Waffen ■ ■ • Was der Osten sich denken würde, mag sich jeder von uns selbst ausmalen ...

So verständlich die Angst ist: es ist nicht ' gut, mit ihr Geschäfte zu machen. Auch im Wahlkampf nicht. Die führenden Männer des österreichischen Sozialismus mögen es selbst überlegen, im stillen Kämmerlein, was ihnen eine Allianz mit gewissen „Unabhängigen“ und Unentwegten in der gemeinsamen Denunziation des Bundeskanzlers als ,,Russenhörigen“ einbringen wird. Jedes Spiel hat nur einen guten Sinn, wenn' es sich an gewisse Spielregeln hält. Ein politisches Spiel in Oesterreich, das Oesterreich selbst aufs Spiel setzt, indem es durch eine schrankenlose parteipolitische Propaganda Oesterreichs Weltkredit aufs Spiel setzt, ist vermessen. Auch wenn es sich mit gutklingenden Parolen tarnt ...

Aber, so lassen sich nunmehr ernster zu nehmende Stimmen hören: gibt es nicht tatsächlich in Oesterreich Geschäftemacher, die immer stärker ins östliche Fahrwasser tendieren und die politische Orientierung unseres Landes in diesem Sinne beeinflussen könnten? Die Antwort muß hier lauten: Gewiß gibt es sie. Und wir werden gut tun, ihnen ein wachsames Auge zu schenken. Das aber ist heute ein Problem, das nüchtern in allen Ländern der freien Welt gesehen und gelöst werden muß. In Bonn, Hamburg, Paris, in Rom. Amsterdam, London und New York: überall gibt es da Kreise der Wirtschaft, die nach China, nach Warschau, nach Moskau, nach den riesigen, vom Ostblock beherrschten Räumen Asiens spähen und dort große Geschäfte machen wollen und zum Teil bereits seit Jahren machen. Der Druck solcher Kreise ist nun in anderen Ländern des Westens, blicken wir nur nach Westdeutschland und England, unvergleichlich größer als in Oesterreich. Die Person des österreichischen Kanzlers, als eines nüchternen Mannes der Wirtschaft, der alle seine Pappenheimer und ihre Wunschziele seit vielen Jahren kennt, bietet wohl hier die Gewähr, daß auch diese Gruppen im Zaume gehalten werden. Was um so leichter sein dürfte, da sie in Oesterreich keineswegs über auch nur vergleichbar so gigantische Wirtschaftspotentiale verfügen wie in anderen Ländern der freien Welt. :

„Austro-Neutralismus“? Diesel gefährliche Schlagwort bedeutet eine doppelte Verpflichtung für jeden österreichischen Patrioten. Einmal, im eigenen Lebensraum jedweder Denunziation der österreichischen Neutralität tatkräftig und sofort an Ort und Stelle entgegenzutreten. Und zum anderen: den Begriff unserer Neutralität mit einem guten, lebensstarken Inhalt zu erfüllen. Wenn wir alle, jeder an seinem Platze, österreichische Neutralität darleben als abendländische Freiheit, Selbstverantwortung und Selbstverpflichtung auf die ewigen Werte der Humanität, des Glaubens und politischer Redlichkeit, dann sollte uns nicht bange sein. Dann haben wir uns nicht zu fürchten in West und Ost. Unser Volk hat soeben wieder seine Lebenskraft, seine Strahlkraft bewiesen auf scheinbar einander ganz fremden Sektoren, die aber beide eine innerste Vitalität voraussetzen: in der Kultur und im Sport. Oesterreichs Mozart-Feiern und Oesterreichs Leistungen bei den Olympischen Winterspielen in Cortina dAmpczzO haben der ganzen Welt gezeigt, daß wir ein ebenso altes wie junges Volk sind, ein Volk von Frauen, Männern, einfachen und hochgebildeten Menschen, die wissen, wo sie stehen und was sie zu geben haben. Im letzten Einsatz — für die Werte des Schönen, der Gesundheit, in einem friedlichen Wettstreit. Weit über alles Gerede und auch über die Bangigkeit des eisigen Wintertages hebt sich da die Flagge. Und leuchtet in kleinster Zelle, im schmälsten Zimmer, als Funke ewigen Lebens, gültiger Begeisterung. Mozarts reiner Klang und das sieghafte Lachen unserer österreichischen Jugend.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung