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Avantgarde der Demokratie

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Bis jetzt hat der sogenannte Westen im Grunde noch gar nicht zur Kenntnis genommen, daß etwa das frühere Wiener Generalsekretariat des Weltgewerkschaftsbundes seinen Sitz in Prag genommen hat. Man übersieht auch geflissentlich die Tatsache, daß ökumenisch-kirchliche Veranstaltungen in Prag verankert sind (und eigentlich nach Wien verlegt werden sollten, um glaubwürdiger zu sein). Man nimmt ebensowenig zur Kenntnis, daß der Alltag in diesen Ländern Einrichtungen für ein vernünftiges Zusammenleben von Staaten, Völkern, nationalen Gruppen seit vielen Jahren entwik- kelt hat. Gruppenrecht, Nationalitätenrecht, Normen und Regeln des Zusammenlebens auf kleinstem Raum gewinnen zum Teil sogar für Westeuropa einen gewissen Modellcharakter und bieten außereuropäischen Kontinenten ganz ohne Zweifel formalrechtliche und praktische Beispiele für die Lösung gesellschaftspolitischer Probleme.

Man hat ebenso vielfach nicht zur Kenntnis genommen, daß Belgrad die sogenannte „Dritte Kraft“ repräsentiert. Belgrad ist eine Stätte der Begegnung für Regierungen und Gruppenvertreter aus der Überseewelt geworden. Der von Vukmano- vič-Tempo entwickelte Gedanke einer dritten gewerkschaftlichen Internationale hat seine Anhänger ebenso innerhalb wie außerhalb Europas gefunden.

Bevor man voreilige Ablehnung oder Zustimmung zu den erwähnten'internationalen Zentren in Südosteuropa äußert, muß man für jetzt und heute zur Kenntnis nehmen: All diese kulturellen, kirchlichen, gewerkschaftlichen, internationalföderativen Befehlszentren können im Augenblick noch als ferngesteuert von Moskau her betrachtet werden. Sofern man aber an eine gewisse Entfesselung, Entflechtung, „Emanzipation“ einzelner Staaten in diesem Raum denkt, müßte man ebenso eine „Emanzipation“ des Weltgewerkschaftsbundes, der Prager Ökumene, der Belgrader „Dritten Kraft“ gegenüber der sowjetischen Großmachtpolitik und gegenüber jedem Imperialismus für möglich halten. Dann aber sollte man „Brückenstellung“ nicht mehr mit Gänsefüßchen versehen und sich gegen ideologischen Einschleichdiebstahl absichern müssen. Die vermittelnde und verbindende Tätigkeit solcher Zentralen und Organisationen würde auf keine ernsthafte Schwierigkeit mehr stoßen. — Das ist Zukunftsmusik. Aber jetzt schon ist es kein Zufall, daß besonders Prag, Budapest und Belgrad durch den Kreml herausgestellt wurden, um eine Verklammerung weltweiter oder weltweit sein wollender Organisationen zwischen Ost und West herbeizuführen.

Der Mythos vom Kleinstaat

Während Großmächte und überkontinentale Imperien Verträge schließen, Kriege führen (am besten immer weit weg) oder sie verhindern, formt sich, angesichts dieser Übergrößen, die neue Bedeutung, der moderne Mythos des kleinen Staates, des kleinen Volkes. Man wird diesbezüglich ebenso an einzelne Völker Lateinamerikas wie des Nahen Ostens denken können — es muß nicht immer Österreich sein, das seine 84.000 Quadratkilometer und seine sieben Millionen Einwohner taxfrei zur „kulturellen Großmacht“ deklariert! Diesem Mythos des Kleinstaates entsprechen die beginnende Einkehr und der Aufstieg zur Individualität. Kleinstaaten, ja, darunter sogar gewisse rückständige Staatswesen, sind dazu berufen, aus der Nachhut der modernen Zeit in die europäische Avantgarde der Zukunft aufzurücken. Wir reden in Westeuropa so viel von Individualität und Autonomie der Persönlichkeit, während uns (über dem vielen Gerede) die Gefahren des Kollektivs, der Einebnung, des Eintopfes belauern. Im europäischen Südosten redet man um so mehr vom Kollektiv, als die einzelne Persönlichkeit — vor allem die Avantgardisten der Jugend — sich gegen diese Nivellierung und „Verwurstung“ tatsächlich zur Wehr setzen. Zum Unterschied von Westeuropa kann man sogar sagen: Die neuerliche Aufpinselung des nationalen Geschichtsbildes, die Selbsterkenntnis im Blick auf den „Großen Bruder“ in Moskau oder in der befohlenen Abwehr gegen die „bösen“ US-Amerikaner oder Bundesdeutschen führen zu einer nationalpolitischen Renaissance im ursprünglichen, gesunden Sinn. Was die Osmanenherrschaft vor vierhundert Jahren vereitelte, tritt spontan wieder zutage. Nicht irgendeine Wiederholung, ein Nachtrag, sondern eine nationale, geistige, soziale und technische Renaissance des modernen Zeitalters hat in diesen Ländern begonnen. Nicht der Kommunismus schlechthin, nicht die Bolschewiken werden Westmitteleuropa „einholen und überholen“, die nationalen Aufbruchkräfte Osteuropas sind es, die mit dem europäischen Westen gleichziehen und endlich ein potenziertes, ein integriertes — ein ganzes Europa gestalten werden! Gerade die kleinsten räumlichen, ethnischen und sozialen Einheiten Südosteuropas werden die ersten und erfolgreichen Bauelemente dieser Zukunft sein.

Hoffen auf die Jugend

Es wäre gefährlich und sinnlos, wollte man der „Trunkenheit der Worte“ (wie es in Südosteuropa so schön heißt) anheim fallen, sobald Worte wie „Europa“, „Wiege einer großen Kultur“ und dergleichen fallen. Die Beobachtung der heutigen politischen Wirklichkeit liefert vielmehr die Anhaltspunkte für diese Vorschau. Demokratie der Gesellschaft, demokratische Staatsordnung, Gleichstellung aller Staatsbürger, Freiwilligkeit, Mitverantwortung hatten und haben für ein Staatswesen, eine nationale und territoriale Gemeinschaft so lange keinen Sinn, als der soziale Friede, die soziale Gerechtigkeit, eine allgemein gehobene Lebenshaltung für alle Staatsbürger, nicht die wesentliche Voraussetzung für die Ordnung der Demokratie bieten. Ein finanziell unterbezahlter Richter, ein überreicher Gutsbesitzer und ein miserabel gestellter Hilfsarbeiter, der täglich von einer Gurke und einer Handvoll Maisbrei lebt, können nicht gemeinsam eine Demokratie aufbauen und tagtäglich verwirklichen. Ebensowenig ist es möglich, daß ein stalinistischer Oberfunktionär mit dem einzigen Befehlsweg „nach unten' demokratische Gemeinschaft mit den durchführenden Befehlsempfängern haben könnte. Erst eine gesunde Gesellschaftspyramide, erst das klare Selbstbewußtsein der junger Generation werden die Demokratie der Zukunft in diesem Raum ermöglichen. Dieser Augenblick der politischen, rechtlichen, sozialen unc menschlichen Gleichstellung in Südosteuropa wird Energien frei machen, die weit über den Donau-Balkan- Raum hinauswirken können.

Wiederum meinen wir nicht der Aufstieg Südosteuropas zu eine: Weltmacht. Vielmehr werden die Wiedergeburt und die freie Selbstbestimmung dieser Länder unc Gebiete der überseeischen Entwicklungswelt nicht nur ein Beispiel liefern können, sondern auch praktische Ratgeber und unmittelbare Hilfestellung leisten. Dabei wird diesem Mittlertum zustatten kommen daß weder der Sudan noch Saudi- Arabien, Ceylon, Indonesien odea sonst ein Land dieser Erde befürchten müßten, daß bulgarische oder tschechoslowakische Düsenbomber und Raketenstellungen diese Entwicklungsländer bezwingen und ausbeuten wollen: Der Mythos des Kleinstaates als eine der Zukunftshoffnungen dieser Welt?

Manche freilich glauben, wir stünden an der Schwelle einer neuen Verordnung, des technisch perfekten Kollektivismus, in dem der Mensch und die gestaltete überschaubare Gemeinschaft zerrieben werden. Dennoch erleben wir heute zwischen den Blöcken, daß die kleinen Staatswesen manövrierfähiger sind als Großreiche mit ihren kontinentalen und überkontinentalen „Kraftfeldern“. Mag sein, daß sich heute der einzelne Mensch und der kleine Staat an einem Tiefpunkt der Entfaltungsmöglichkeiten angelangt wähnen. Soweit aber Geschichte sinnvoll war und bleibt, ist die Persönlichkeit nicht nur höchstes Glück der Menschenkinder, sondern ebenso der schöpferische Geist der kleineren politischen Gemeinwesen. Österreich hat zweifellos bis zur Stunde allen südöstlichen Nachbarn zeigen können, was kulturelle und geistige Gewalt inmitten politischer und militärischer Ohnmacht vermag. Die Nationen Südosteuropas aber haben in Jahrhunderten schicksalhafte! Verflechtung mit dem Hause Öster reich aus dem gleichen Kraftquell geschöpft. Ihre „Emanzipation“, ihre schöpferische Selbstverwirklichung ist nicht mehr bloße Zukunftshoffnung, sondern werdende Wirklichkeit. Es wird das menschliche Mittlertum Österreichs und seiner südosteuropäischen Nachbarn sein, das zu einer neuerlichen Aussöhnung und Zusammenarbeit zwischen den Großräumen des östlichen und westlichen Teileuropa beiträgt. Dieser Weg, dieser Versuch wird im einzelnen voller Gefahren, Mühsal und Rückschläge sein. Aber das Ziel bleibt unverrückt. Für Österreich und seine Nachbarn in Südost gelten dabei nicht machtpolitische Parolen, sondern ganz zuletzt jenes Grillparzer-Wort: „Nur durch den Menschen und für den Menschen ist der Mensch Mensch.“

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