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Digital In Arbeit

„Bedarfsförderung und Nachfrageerhöhung“

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Dieser „Bedarfsförderung“ stand eine echte „Nachfrageerhöhung“ gegenüber. Die vermehrte Freizeit der Arbeitnehmer mußte genützt werden. Solange man sechs volle Tage arbeitete, ruhte man am siebenten aus — und die paar Tage Urlaub benützte man zu Ausbesserungen im Schrebergarten oder zum Besuch von Verwandten, irgendwo in der näheren Umgebung. Die Fünftagewoche aber brachte das Kraftfahrzeug zur Gestaltung des verlängerten Wochenendes, und der mehrwöchige bezahlte Urlaub ließ die Erwägung einer Urlaubsreise immer ernsthafter werden. In den dreißiger Jahren war dann in Mitteleuropa der Zustand erreicht, daß bereits sehr viele Familien „auf Sommerfrische“ in kleine Provinznester zur Erholung und zur Abwechslung fuhren und eine mäßiggroße Zahl „besserer Familien“ ans Meer oder in die Schweiz reiste. Durch den zweiten Weltkrieg wurde die organische Weiterentwicklung der Urlaubsreisen jäh unterbrochen, und es kam zu den Zwangsreisen der Soldaten — in die Normandie und nach Stalingrad, zur Akropolis und in die lybische Wüste. Und ebenso zu den „Reisen“ der GI’s ins „alte Europa“ .. .

So hatte also die vermehrte Freizeit den Auslandsurlaub zeitmäßig ermöglicht, die Fremdenverkehrsindustrie die Werbetrommel gerührt, die Motorisierung die Beweglichkeit erhöht, der Krieg fremde Länder für Millionen zu einer Realität werden lassen — und nun kamen nach Überwindung der un-

mittelbaren Nachkriegsnot auch noch die diversen größeren und kleineren „Wirtschaftswunder“, die es zahllosen Menschen ermöglichten, einen mehrwöchigen Auslandsurlaub anzutreten. Und als Draufgabe pries man immer mehr den Erlebnisaustausch und das Einanderkennenlernen als sicherstes Mittel zur Einigung der Welt und zur Bewahrung des Friedens.

Und die Bilanz …

Nun tobt der Sozialtourismus schon mehrere Jahre hindurch, und wir können uns nun wohl bereits ernsthaft die Frage vorlegen, ob seine Auswirkungen positiv oder negativ sind, ob er zu fördern oder abzulehnen ist, ob er seine Ziele (klar formulierte, eigene Ziele hatte er ja eigentlich nie) erreicht hat oder nicht.

Und da kommen wir nun zu folgenden Schlüssen:

Als „völkerversöhnendes" Element hat der Sozialtourismus bisher weitgehend versagt. Er hat versagt, weil er — zum Unterschied etwa von gewissen Studentenaustauschprogrammen — nicht Volk mit Volk in Kontakt brachte, sondern Urlaubsgäste mit Hotelpersonal, Gastwirten, Eisverkäufern und Dorfcasanovas. Für diese Kontakte reicht auch das Gesten-

kauderwelsch, während jede intelligentere Auseinandersetzung zumeist an der Sprachenklippe scheitert. Auch heute noch ist Spanien vor allem das Land der Stierkämpfe, in Italien ißt man Spaghetti (die man mit der Gabel dreht) und in Jugoslawien kann man billig leben, wenn man geschickt schmuggelt. Man kennt das Ansichts-V; kartenporto, aber nicht das Durchschnittseinkommen des ausländischen Berufskollegen. Im günstigsten Fall bestätigen die Auslandsreisen die uralte, etwas oberflächliche Meinung des Wienerliedes: „Menschen, Menschen san ma alle …“

Die Bedeutung des Sozialtourismus für die Staatskassen der betroffenen Länder ist gewaltig (der österreichische Staatshaushalt steht und fällt bekanntlich mit dem Fremdenverkehr), aber diese rein ökonomische Seite des Massenreiseverkehrs gehört nicht in diesen Rahmen.

Die gesundheitliche Bedeutung ist vermutlich nicht allzu groß, und gerade in jüngster Zeit wurde von medizinischer Seite immer wieder darauf hingewiesen, daß die Hetzjagden durch halb Europa nicht gerade als Entspannung angesehen werden können. Auch das beharrliche Rösten im Adriasand und ein improvisierter Hochalpinismus für zehn Tage sind in der Regel nicht dazu angetan, eine wesentliche Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes herbeizuführen. Die „Zurück-zur-Natur"-Idee des Campings ist unterdes vielfach in einen mit Luxus verbrämten Masochismus entartet, dessen gesundheitsfördernder Wert auch zu bezweifeln ist.

Aber die kulturelle Bedeutung? — Auch hier ist man sehr versucht, an Qualtingers Travnicek-Dialog zü denken: „Was, Travnicek, sagt Ihner Spanien?" „Offen gestanden — nichts." — Es war zwar so mancher schon in den Uffizien und im Louvre — schließlich hat man ja dafür bezahlt, und man will etwas sehen für sein Geld —, aber wer die Museen seiner JTeimat- Stadt nicht besucht, dem wird sich aller Voraussicht nach der Geist des alten Roms auch dann nicht offenbaren, wenn er in der Julisonne über das Forum Romanum schleicht. Und die diversen Denkmäler photographiert man zwar pflichtschuldigst, um etwas Dauerndes mit nach Hause zu nehmen, aber unter uns: die Ansichtskarten davon sind schärfer und kommen billiger.

Mit einem Wort: macht Schluß mit den organisierten Massentransporten von Amateurphotographen und Miniaturschmugglern über die Landesgrenzen hinweg, macht Schluß mit der Kilometerfresserei zwischen verstaubten Pinien, macht Schluß mit dem Reklamerummel für renovierte Fischerdörfer mit Dusche und Meerblick!

Mit einem Wort? Mit keinem Wort!

Der Sozialtourismus gehört nicht abgeschafft, sondern weitergebildet, nicht ausgerottet, sondern sorgsam gepflegt.

Die Chance der Zukunft

Denn erstens hat der Sozialtourismus zweifellos eine große psychologische Bedeutung. Er hilft, den Fortschritt . im Lebensstandard weitester Bevölkerungskreise zu dokumentieren, er hilft, in seiner Weise die Errungenschaften der modernen Demokratie zu fundieren. Denn wer einmal mit dem Roller nach Rom, mit dem Reiseautobus zu den Loire-Schlössern, mit einem Frachtdampfer nach Alexandrien gereist ist — ohne staatlichen Erlaubnisschein, mit seinem selbstverdienten Geld, in voller Freizügigkeit des gewählten Urlaubsortes —, der wird diese Freiheit nicht wieder missen wollen. (Daher ist es auch kein purer Zufall, daß der Straßenbahnschaffner in Budapest, der Ministerialbeamte in Prag und die Hausfrau in Bukarest nicht ins nächste Reisebüro gehen können und dort sagen: „Ich möchte ein zweiwöchiges Arrangement für die zweite Junihälfte in Senigallia; mög lichst ein Zweibettzimmer mit Dusche.")

Zweitens, drittens und so weiter aber ist das bisherige Versagen des Sozialtourismus auf anderen Gebieten kein Beweis dafür, daß dieses Versagen ein dauerndes und unkorrigierbares ist. Wenn unter Hunderten, die durch den Louvre geschleust werden, auch nur einer wachgerüttelt wird für große Kunst — dann ist das ein Gewinn für die ganze Menschheit. Wenn nur einer unter fünfzig sich ein wenig ernsthaft mit der Sprache des Landes befaßt, in das ihn seine Reise führt — dann ist das ein Gewinn. Wenn nur einer in einem ganzen Sonderzug erahnt, was Rom, was Athen, was Paris bedeutet — dann ist das ein Gewinn. Und jeder einzelne, der andernfalls in seinem Heimatort geblieben wäre und der durch den Sozialtourismus den Weg in Ferne — in Heimat oder Ausland — gefunden hat und dessen Blick sich dadurch auch nur um ein weniges weitete — er ist ein Gewinn.

Wenn es den Sozialtourismus noch nicht gäbe, man müßte ihn schleunigst erfinden.

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