6540063-1946_36_02.jpg
Digital In Arbeit

Bedrohter Hochschulbetrieb

Werbung
Werbung
Werbung

Über die Mitschuld unserer Hochschulen daran, daß einem Teil der Intellektuellen der österreichische Staatsgedanke verlorenging und er schließlich eine Beute des Nazismus wurde, ist heute doch wohl die Debatte geschlossen. Man müßte in einer geschichtlichen Untersuchung der Ursachen um sechs bis sieben Jahrzehnte zurückgehen und frühere parteipolitische Systeme und ihre Unterrichtsverwalturigen auf ihre Mitschuld prüfen, um die Zusammenhänge einer folgenschweren Entwicklung aufzuzeigen. Hier sei nur an die charakteristische Tatsache erinnert, daß unter offizieller Patronanz zwar seit den siebziger Jahren ein reichliches alldeutsch gerichtetes und immer mehr erstarkendes akademisches Korporationswesen bestand, aber zum Beispiel es erst seit 1876 an der Wiener Universität neben einzelnen kleinen liberalen Korps eine einzige Studentenvereinigung mit einem programmatisch österreichischen Bekenntnis, den damaligen katholischen Studentenverein „Austria“, gab, in ganz Österreich gemeinsam mit der schon 1876 gegründeten Innsbrucker katholischen Verbindung und einem Prager Korps gleichen Namens bis in die achtziger Jahre die einzigen Vertretungen betont österreichischer Einstellung. Unter welchen Schwierigkeiten und gewalttätigen Anfeindungen, zuweilen verfolgt, selbst unter Anteilnahme von Rektoren und mißgünstigen Senaten, sich eine österreichische Studentenbewegung schließlich durchsetzte, ist eines der leidvollsten Kapitel österreichischer Hochschulgeschichte. Gewiß haben die nationalen Kämpfe, welche die alte Monarchie verheerten und auch in den akademischen Raum hineinschlugen, ihren Anteil daran, aber ebenso sicher ist es, daß dazu auch ein zersetzender, von preußischer Geschichtsauffassung infizierter Kritizismus der wissenschaftlichen Lehre beigetragen hat. Es ist nicht nur berechtigt, sondern dringend geboten, daß hier von Grund aus Wandel geschaffen und alles getan wird, um das österreichische-Wesen unserer obersten Bildungsstätten, die geistige Autonomie österreichischer Wissenschaftlichkeit zu sichern. Deshalb ist es durchaus zu begrüßen, daß die dritte Novelle zum Nationalsozialistengesetz besondere Bestimmungen trifft, um zumal die Fächer Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Geschichte und Literaturgeschichte, Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre von früheren Übeln keimfrei zu machen. Nicht zu verkennen ist dabei, daß nirgends das Säuberungsproblem so schwierig ist wie im Bereiche der Wissenschaft und der Gelehrtenwelt, und gerade hier ist eine gründliche Prüfung notwendig, soll nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und durch eine Oberflächenbehandlung der Kernfrage: Wer bietet als österreichischer Hochschullehrer die rechte Gewähr?, nicht etwa mehr zerstört als genutzt werden.

Um ein Beispiel anzuführen: Die W i e-ner ' philosophische Fakultät zählte bis zum Jahre 1938 achtzig beamtete Professoren. Von diesen sind ihr nach den notwendigen Ausscheidungen im letzten Semester 36 verblieben; unter diesen 36 befanden sich noch 11, die weder in ihren Vorlesungen noch in ihren Schriften österreichischer Gesinnung zuwidergehandelt hatten und deren politische Einstellung so allgemein bekannt ist, daß die zur Prüfung der Fälle eingesetzte Kommission sie zur Fortführung ihrer Vorlesungen berechtigte. Sie waren dem Drucke der Hitler - Herrschaft wie so viele andere „Minderbelastete“ gewichen und waren nach dem März 1938 Anwärter oder Parteimitglieder geworden und wurden deshalb auf Grund der neuen Novelle anfangs August 1946 von ihrer Lehrtätigkeit enthoben. Es verbleiben also von dem gesamten Lehrkörper der philosophischen Fakultät nur mehr etwa 2 5, von denen mehr als die Hälfte knapp vor der Erreichung der Altersgrenze stehen oder über diese schon hinaus sind, andere nur von wenigen Hörern besuchte Spezialfächer vertreten. An allen drei österreichischen Hochschulen gibt es philosophische Hauptfächer, die nach den letzten Enthebungen überhaupt keine oder fast keine Lehrkräfte bke s i t z e n. Nach dem Urteile verantwortlicher akademischer Stellen steht man hier vor einem vollständigen Aufhören des Lehrbetriebes. Bei einem Hauptfach der Wiener Universität wurden jetzt 40 englische Studierende unterstandslos, weil sie heuer keinen Lehrer dafür mehr vorfinden, viele österreichische Studierende hängen mit ihren Dissertationen in der Luft, die sie mit nun enthobenen Lehrern vereinbart hatten. Die fachliche Ausbildung vieler anderer ist überhaupt in Fragegestellt. Noch schlimmer als in Wien sieht es in Graz und Innsbruck aus. Um alle die entstandenen Lücken auszufüllen, fehlt es an neuen, bewährten Kräften. Die Universitäten sind in einen Zustand geraten, der unsere studierende. Jugend in ihrer Ausbildung bedroht.

Österreich hat keine Reichtümer zu verschenken. Sein größter Reichtum waren bisher seine Kultur, die gepflegten geistigen Begabungen seines Volkes. Dann würden wir zu Bettlern, wenn wir diese der Verarmung preisgäben. Es wird ernstlich zu untersuchen sein, wie der Gefahr zu begegnen ist. Die 3. Novelle zum Nationalsozialistengesetz läßt grundsätzlich Einzelverfügungen zu in Fällen, „wo mit Sicherheit auf eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich geschlossen werden kann“. Vielleicht ist hier der Ausweg aus einer bedrohlichen Situation gegeben. Ein Ausweg muß gefunden werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung