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Begriffe und Tatsachen

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Die Begriffe Demokratie, Diktatur, Kapitalismus, Sozialismus, Planwirtschaft, Freihandel haben sich seit Monaten in der öffentlichen Diskussion glücklich in ein wahres Gestrüpp widersprechender Vorstellungen verfangen. So konnte es auch nicht anders geschehen, daß auch die Erörterungen um den Marshall-Plan von den verschiedensten Kommentaren durchrankt sind. Das fing damit an, daß Optimisten beim ersten Bekanntwerden der Vorschläge des amerikanischen Staatssekretärs sogleich von dem Projekte einer europäischen Wirtschaftsunion sprachen. Als dann Bevin und Bidault ihre Vorkonferenz abhielten, hieß es, sie hätten die Voraussetzungen eines solchen Zusammenschlusses festgelegt und die Annahme der Einladung zu einer Dreierbesprechung durch Molotow wurde ohne weiteres dahin verstanden, Rußland sei bereit, über die Grundlagen einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit der europäischen Staaten unter finanzieller Mithilfe Amerikas zu verhandeln. Dann kam das russische Nein und die Polemik um die ablehnende Haltung der Sowjetunion und der ihr nahestehenden Oststaaten. Es wurde behauptet, der ganze Plan sei der Versuch, die europäischen Länder unter die Diktatur des amerikanischen Finanzkapitals zu bringen und einem solchen Anschlag müßten sich alle Völker widersetzen, die ihre Unabhängigkeit zu verteidigen entschlossen seien; es habe sich bei dieser Gelegenheit die vollkommene Unvereinbarkeit westlicher und östlicher Wirtschaftsprinzipien gezeigt. Das Ergebnis der ganzen Erörterung war die allgemeine Überzeugung„ nun sei die Spaltung Europas in einen West-und einen Ostblock endgültig vollzogen und dem Marshall-Plan würde ehestens ein russischer Plan mit einem für mehrere Jahre bestimmten und alle Ost- und Südoststaaten umfassenden Wirtschaftsschema entgegengestellt werden, das Ost dem West frontal gegenübersteht. Wäre dies wahr, so wären die tiefen Besorgnisse berechtigt, die an solche Auslegungen geknüpft wurden. Die Atmosphäre ist voll Spannungen. Aber um so mehr ist es am Platze, Übertreibungen des Tatsächlichen zu vermeiden und Ängsten zu begegnen die den Blick für die nüchterne Wirklichkeit vernebeln. Machen wir den Menschen das Leben nicht schwerer, als es ohnehin ist. .

Was ist wirklich geschehen? — In den Vereinigten Staaten war man mit sich zu Rate gegangen, wie man einer schweren Absatzkrise in der zu unerhörter Entwicklung gelangten nordamerikanischen Industrie und in ihrem Gefolge einer riesenhaften Arbeitslosigkeit vorbeugen könnte. Auf der einen Seite haben die ungeheuren amerikanischen Goldreserven, solange man sie in den Kellern liegen läßt, keine andere Wirkung, als die, das Geldwesen der meisten übrigen Länder der Entwertung zuzutreiben. Auf der andern Seite schafft auch das Herleihen großer*Goldbeträge den Vereinigten Staaten keinen dauernden Nützen, wenn diese Beträge nur zur Deckung des Bedarfs an dringenden Konsumgütern, in den Schuldnerstaaten verwendet werden, und das Gold binnen kürzester Frist wieder an seinen Ausgangspunkt zurückfließt, ohne den amerikanischen Industrieprodukten Absatzmärkte zu öffnen. Um dieser Sackgasse zu entgehen, brachte das amerikanische Staatsdepartement eine Tagung der Internationalen Handelsorganisation (ITO) in Genf zulande, auf der die Vereinigten Staaten durch William £iayton vertreten waren Auch hier wurde zunächst mit einem Begriffe operiert, der an die tatsächlichen Verhältnisse nicht heranreichte.

Es war der des Freihandels und des Abbaus der Schutzzölle. Aber diese Konferenz harte immerhin den Erfolg, daß Clayton sich ein klares Bild von dem Ausmaß der wirtschaftlichen Notlage Europas machte. In amerikanischen Finanzkreisen und auch im amerikanischen Kongreß hatte sich mittlerweile ein Unbehagen eingenistet, daß alle Geldopfer an europäische Länder wie in ein Faß ohne Boden verschwinden können, ohne einer ernsten wirtschaftlichen Erholung zu nützen, und den amerikanischen Industrien einige Aussicht auf Absatz zu eröffnen. Selbst mit der Niederreißung aller europäischen Zollmauern, so berichtete der aus Genf nach Washington berufene Experte Clayton seinem Chef Marshall, wäre für den amerikanischen Export noch nichts getan, da die europäischen Länder auf weite Sicht hinaus außerstande seien, amerikanische Waren in irgendeiner Form zu bezahlen. Marshall zog daraus die Folgerung: bevor man daran denken konnte, dem amerikanischen Export europäische Märkte zu erschließen, müßte man Europa als Gesamtheit wirtschaftlich wieder aufrichten. .Diesem Gedankengang, mit durchaus realen, wirtschaftlichen und nicht politisch . kämpferischen Folgerungen, entsprang der Marshall-Plan. Also nicht dem Willen, Rußland ein Paroli zu bieten; auch nicht, um den größeren Teil Europas dem amerikanischen Großkapital tributär zu machen, und am allerwenigsten aus ideologischen Gründen zugunsten der Vorherrschaft irgendwelcher wirtschaftlicher, liberalökonomischer Prinzipien. Aber die eingefleischten wirtschaftspolitischen Bsgriffe wüteten inzwischen in der europäischen Publizistik, nicht zum Nutzen der hungernden Völker. Man schien sich an der Vorstellung eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen dem angeblich freihändlerischen Westen und dem streng planwirtschaftlichen Osten geradezu zu berauschen. Das ging so weit, daß man sich weigerte, aus einem Ereignis die notwendigen Folgerungen zu ziehen, das deutlich den Widersinn solcher Begriffsreiterei demonstriert. Die österreichische Regierung schloß mit Polen ein Kohlenlieferungsabkommen und erhielt zur Bezahlung dieser polnischen Kohle von den Vereinigten Staaten Dollars. Polen bekommt aber diese Dollars nicht auf den Tisch gezählt, sondern muß dafür amerikanische Maschinen kaufen. Es gibt also keine unübersteigbare Kluft zwischen einem Westblock und einem Ostblock und — was noch bedeutsamer ist — es gibt europäische Länder, denen die Funktion von Bindegliedern stillschweigend überlassen wird.

Man muß nicht immer gleich in Katastrophen denken. Ein derartiges Denken ist zwar eine begreifliche Folge der Katastrophen, durch die Europa hat hindurchgehen müssen, aber eine bessere Lehre, die man daraus ziehen sollte, ist die, breiter zu denken, sich nicht von starren Begriffen . verwirren zu lassen, die der Wirklichkeit nicht gerecht werden, und neue Wege eines fruchtbaren internationalen Zusammenlebens zu suchen. Der wirtschaftliche Neuaufbau Europas ist eine notwendige Voraussetzung für die Erholung der ganzen Welt. Alle großen Mächte ohne Unterschied sind daran interessiert. Daß eine finanzielle Mithilfe der Vereinigten Staaten dabei eine nützliche Rolle spielen kann, hat auch Molotow zugegeben. Es ist ein Ausfluß der Souveränität jedes europäischen Staates, die Art dieser Mithilfe selbst zu bestimmen. Die wirtschaftliche Notlage Europas, einschließlich England, ist so außerordentlich schwierig, daß man sie wirklich nicht noch dadurch komplizieren sollte, daß man die vorhandenen Gegensätze so behandelt, als ob zwischen ihnen jede Art von Brücke undenkbar sei. Selbst zwischen Feuer und Wasser gibt es eine Mitte: den gelöschten Brand.

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