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Vor 90 Jahren - am 24. April 1915 - begannen im Osmanischen Reich die Armenier-Massaker, denen 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Es gibt eine armenische Weltverschwörung", lässt der Schriftsteller Edgar Hilsenrath in seinem "Märchen vom letzten Gedanken" den Polizeichef der Stadt Bakir während des Ersten Weltkrieges sagen. "Sie sind die wirklichen Drahtzieher dieses Krieges. Ihr Endziel ist die Vernichtung der Menschheit. Aber zuerst wollen sie uns Türken schaden. Und deshalb haben sie diesen Krieg geplant." Doch da der paranoide Polizeichef seine These nicht belegen kann, zwingt er einen unschuldigen armenischen Häftling dazu, sich als Drahtzieher der Weltverschwörung zu bekennen. Der letzte Gedanke des zum Tode Verurteilten schweift durch die Geschichte seiner Familie und erlebt in Eriwan den großen Armenierpogrom des Jahres 1915 mit, mit dem die jungtürkische Regierung einen lange schwelenden innen- und gesellschaftspolitischen Streitpunkt zu lösen versuchte. Hilsenraths grausam bewegendes Epos führt in die Welt des von religiös-ethnischen Vorurteilen, Verfolgungswahn und Machtgier gezeichneten untergehenden Osmanischen Reichs ein.

Dunkles Kapitel

Es eröffnet einen Blick auf ein dunkles Kapitel europäischorientalischer Geschichte, das bis heute der Aufarbeitung harrt. Das liegt auch daran, dass sich die Türkei noch immer weigert, sich zu ihrer historischen Schuld zu bekennen. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges starben durch systematische Vertreibung und Tötung etwa anderthalb der zwei Millionen auf osmanischem Territorium lebenden Armenier.

Die türkische Geschichtsschreibung geht davon aus, dass es im Verlauf des Krieges mit Russland auf beiden Seiten zu Grausamkeiten kam, der 300.000 Armenier zum Opfer fielen. Ein politisch gewolltes, systematisches Vorgehen gegen die christliche Minderheit habe es aber nicht gegeben. Die Türkei tut sich mit der Aufarbeitung der Armenier-Massaker deshalb schwer, weil darin ein diffiziles Kapitel ihrer Nationalgeschichte berührt wird. Die Rolle der christlichen Minderheiten im muslimischen Riesenreich, die von den europäischen Großmächten zum Teil über Jahrhunderte protegiert wurden, verbesserte sich während der Tanzimat-Periode (1839-1879). Zu einer wirklichen Gleichberechtigung kam es aber nicht. Parallel zu den staatlichen Reformen entwickelten sich regionale Nationalismen, die der Idee eines Panosmanismus und Panislamismus entgegenstanden.

Nationale Identitäten

Auch die Armenier, die im Jahre 301 als erstes Volk der Welt das Christentum zur Staatsreligion machten, spürten ein Wiedererstarken ihrer nationalen Identität. Armenische Abgeordnete im osmanischen Parlament forderten mehr Rechte für ihr Volk. 1914 wurde ein Reformpaket für die vor allem in den Ostprovinzen des Reiches siedelnden Armenier beschlossen. Türkische Politiker befürchteten, dass die Armenier als nächstes die territoriale Trennung von Konstantinopel anstrebten.

Parallel zu diesen Entwicklungen übernahm 1909 die nationale Reformbewegung der "Jungtürken" die Macht. Die Jungtürken verfochten eine Vorherrschaft der Türken im multiethnischen Osmanenreich, was das friedliche Zusammenleben der Völker belastete. Als das Osmanische Reich im Januar 1915 eine schwere Niederlage gegen Russland hinnehmen musste, wurden armenische Nationalisten dafür verantwortlich gemacht. Sie galten als der "innere Feind", der den Staat bedrohte und mit Russland kooperierte. Historisch unstrittig ist, dass in Ostanatolien armenische Banden Terror-Akte verübten und Dörfer plünderten.

Im März 1915 beschloss das Zentralkomitee der jungtürkischen Partei "Einheit und Fortschritt" die "Beseitigung der inneren Gefahr", also die Vertreibung und Vernichtung der Armenier. Federführend bei der Organisation und Ausführung des Genozids war das Innenministerium unter Talaat Pascha. Am 24./25. April 1915 wurde zunächst die armenische Führungsschicht verhaftet und 2350 Männer getötet. Bis zum Sommer kam es zu Massendeportationen vor allem der in Ostanatolien siedelnden Armenier. Danach folgten ethnische Säuberungen in Westanatolien und Thrazien. Das erste Ziel der Umsiedlungen war Aleppo. Diejenigen, die den langen Marsch durch die Wüste überlebten, wurden dort in Sammellagern gesteckt und weiter nach Südsyrien oder in die irakische Wüste vertrieben. Zwar gab es auch gezielte Massenexekutionen. Die meisten Opfer forderten jedoch die Todesmärsche, auf denen zwischen 800.000 und 1 Million Menschen an Hunger, Durst, Krankheit starben.

Marsch in den Tod

Etwa 100.000 Armenier überlebten die Märsche, weil sie sich zwangsturkisieren ließen, weiteren 500.000 gelang die Flucht. Da die Zwangsumsiedlungen ein Teil der türkischen Kriegsstrategie war, wird von türkischer Seite zugestanden, dass zwar die Deportationen, nicht aber die massenhafte Vernichtung offiziell geplant worden sei. Zeitzeugenberichte, wenige erhaltene Befehle der jungtürkischen Regierung sowie die Aussagen einiger für die Massaker verantwortlichen Politiker während der Istanbuler Kriegsgerichtsprozesse 1919-20 belegen einen systematisch geplanten Völkermord.

Nachdem die russischen Truppen 1916 Armenien besetzten, sich armenische Truppen der russischen Armee anschlossen und 1917 in die Türkei einrückten, drehte sich die Spirale der Gewalt weiter. Nun ermordeten die Armenier zwischen 10.000 und 128.000 Türken. Als die Kriegsalliierten auf der Konferenz von Sèvres das Ende des Osmanischen Reiches und die Gründung eines unabhängigen Armeniens beschlossen, kam es erneut zu antiarmenischen Übergriffen, denen insgesamt weitere 245.000 Armenier zum Opfer fielen. Wo keine Armenier mehr lebten, ergab ein armenischer Staat auch keinen Sinn. Erst 1991 erhielten die Armenier nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren eigenen Staat. Diplomatische Beziehungen gibt es zwischen Ankara und Eriwan nicht. In der Türkei leben heute noch etwa 60.000 Armenier, die allerdings, wie auch andere christliche Minderheiten, auf die völlige Gleichberechtigung warten. Erst langsam kommt Bewegung in die sensiblen türkisch-armenischen Beziehungen. So wurde 2004 in Istanbul im Beisein von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein Armenier-Museum eröffnet.

Auswirkung auf EU-Beitritt

Ein Politikum bleibt der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts aber nicht nur für die türkisch-armenischen Beziehungen, sondern auch im Blick auf die eu-Beitrittsverhandlungen der Türkei. Als die deutschen Christdemokraten im Bundestag einen Antrag einbrachten, in dem sie von der Türkei die Anerkennung der Armenier-Massaker verlangten, weil die bisherige Leugnung der übernationalen Versöhnungsidee der eu entgegenstünde, ernteten sie die heftige Kritik des türkischen Botschafters Mehmet Ali Irtemçelik. Er warf der cdu/csu vor, sie betrachte das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien vorurteilsvoll. Sie stünde in der Gefahr, "durch die plumpe Verleumdung der türkischen Geschichte" den Integrationsprozess der Türken in Deutschland zu belasten. Die Union werde ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht, wenn sie sich "zum Sprecher des fanatischen armenischen Nationalismus" mache. Die dem eu-Beitritt der Türkei freundlich gesonnene Regierungskoalition reagierte zurückhaltend. Über strittige historische Urteile, hieß es aus Kreisen der spd, sollte nicht im Bundestag abgestimmt werden. Andere Länder sind in dieser Frage weiter gegangen: Die Parlamente Belgiens, Frankreichs und Schwedens haben in den letzten Jahren Resolutionen zur Anerkennung des Genozids beschlossen.

Es gibt also keinen Grund, im Zuge der eu-Beitrittsverhandlungen aus politischer Rücksichtnahme auf die Enttabuisierung eines Völkermords zu verzichten. Ob die Türkei sich allerdings zu einer Geste der Versöhnung durchringen kann, bleibt offen.

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