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Bericht aus dem wilnaer Getto

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DAS TAGEBUCH DER MARIA ROLNIKAITE. Europa-Verlag, Wlen-Frankfurt-Zürich, 1966. 60 Seiten, 8 Seiten Bilder. S 96.—

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DAS TAGEBUCH DER MARIA ROLNIKAITE. Europa-Verlag, Wlen-Frankfurt-Zürich, 1966. 60 Seiten, 8 Seiten Bilder. S 96.—

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Man erwarte von diesen Aufzeichnungen einer jungen litauischen Jüdin, die zu den wenigen Überlebenden des Wilnaer Gettos gehört, kein Tagebuch wie das der Anne Frank. Beiden Mädchen gemeinsam ist zwar, daß sie als Halbwüchsige zu Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden. Aber Anne Frank hatte der Maria Rolnikaite eines voraus: sie war in der Zeit, in der sie ihr Tagebuch schrieb, mit ihren Eltern beisammen, sie wurde von Freunden der Untergetauchten mit Lektüre versorgt und versuchte sogar, sich systematisch weiterzubilden, sich auf eine bessere Zukunft vorzubereiten, die zu erleben sie nie die Hoffnung aufgab. Es hat diese Zukunft dann nie gegeben. Im August 1944 wurde die Familie Frank von den Häschern in ihrem Versteck aufgespürt und nach Ber-gen-Belsen gebracht, wo Anne, noch nicht sechzehnjährig, im März 1965 gestorben ist.

Ganz anders das Schicksal der Maria Rolnikaite; auch sie ist das wohlbehütete Kind einer kultivierten Familie, die bald nach der deutschen Besetzung von Wilna — Maria ist damals knapp 14 Jahre alt — mit allen anderen Juden der Stadt, ins Getto gebracht wird. Aber hier ist sie von Anbeginn bis zur „Liquidierung“ dieses Ortes der Qual und der Schande, ganz unmittelbar dem willkürlichen Terror der Machthaber ausgesetzt: den Demütigungen und Mißhandlungen, dem Hunger, der ständigen Todesangst vor den „Aktionen“ der SS, bei denen Menschen für die Erschießungen in Paniriai „ausgewählt“ wurden. Bei der Auflösung des Gettos — die Stadt sollte „judenfrei“ gemacht werden, trifft Marias Mutter und Geschwister dieses Schicksal, während sie selbst, als noch arbeitsfähig befunden, in verschiedene Konzentrationslager kommt. Die letzte Station ist das berüchtigte Lager Stutt-hof bei Danzig, von wo man die Überlebenden beim Nahen der russischen Armeen weiter ins Ungewisse treibt. Maria gehört zu denen, die von sowjetischen Soldaten als Halbtote errettet werden.

Mit der Vorurteilslosigkeit und Unbestechlichkeit eines sehr jungen Menschen hat sie ihre furchtbaren Erfahrungen zu Papier gebracht und teilweise auswendig gelernt, um der Nachwelt zu überliefern, was damals geschehen ist. Die Dokumente bezeugen ihre Hilflosigkeit gegenüber unverständlichen Verbrechen an Menschen, die nichts Schlechtes getan haben, aber verfolgt werden, weil sie einer Rasse angehören, die auszurotten das Ziel der Nationalsozialisten war. Sie berichtet von unvorstellbaren Untaten, die sie mitangesehen hat; von Verbrechen, bei denen — und das ist für uns Österreicher wichtig zu wissen — Franz Murer, der ehemalige stellvertretende Gebietskommissar von Wilna, eine bestialische Rolle spielte. Eben jener Franz Murer, den ein Grazer Geschworenengericht in seinem Prozeß freigesprochen hat!

Jeder gutwillige Österreicher, der wissen möchte, wie es damals wirklich war, sollte dieses Buch lesen, nicht zuletzt die junge Generation, die persönlich keinen Anteil hat an den Schandtaten der Vergangenheit, wohl aber ein Anrecht, und auch die Pflicht, sich sachlich über diese Vergangenheit zu orientieren.

In dem mutigen Nachwort von Walter Hacker wird Murer ein anderer Österreicher gegenübergestellt, der Feldwebel Anton Schmid, der den im Wilnaer Getto zusammengepferchten Juden zu helfen versuchte und dafür hingerichtet wurde.

„Auf welcher Seite steht Österreich? Auf der der Schinder oder der Opfer, auf der der Freisprecher oder jener, die für die Anständigkeit und für die Pflicht, dem Nächsten zu helfen, gelassen in den Tod gingen? Auf der Seite Murers oder auf der Schmids?“

Das ist die Frage, die sich jeder selbst beantworten muß und die seine Entscheidung fordert. Es ist nicht nur eine Entscheidung gegenüber der Vergangenheit, sondern eine, die das Gesicht unserer Gegenwart und Zukunft mitbestimmt.

Man lese dieses Buch, es sollte in jeder Schulbibliothek stehen! Beschönigungen werden nach der Lektüre unmöglich, es heißt darnach Farbe bekennen, und davon, wie diese Probe ausfällt, hängt viel ab, für uns und für das Österreichbild unserer Welt.

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