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„Ich darf also sagen, daß ich in dieser Rede vom 1. Juni 1958 vor der Nationalversammlung ungefähr alle Katastrophen vorausgesehen hatte, die General de Gaulle über Frankreich hereinbrechen lassen sollte“, schloß Maitre Jacques Isorni und maß mich über den Rand seines Buches „Ainsi passent les Republiques“ („So vergehen die Republiken“) hinweg mit dem milden Triumph eines Mannes, der glaubt, recht behalten zu haben. Er hatte mir den entscheidenden Passus vorgelesen, in dem er die Gründe zusammenfaßte, die ihn als einzigen Abgeordneten der politischen Rechten veranlaßten, de Gaulle die Investitur zu Verweigern. Oder könnte vielleicht der Advokat von Louis XVI. seine Stimme Robespierre geben? Maitre Isorni war nicht nur ein politisierender Advokat, er war der Verteidiger Marschall Petains.

Und in die Stille des nahen Jardin du Luxembourg hinein fuhr er fort: „Ich glaube mehr und mehr an die Möglichkeit, Algerien im Rahmen der französischen Souveränität zu behaupten. Es ist die vernünftigste Lösung, weil man an den Tatsachen erkennt, daß es heute unmöglich ist, Algerien die Unabhängigkeit zu geben, ohne eine außerordentliche Explosion zu provozieren. Die Unabhängigkeit Algeriens ist kein Gesetz ,im Sinne der Geschichte', sondern ein widernatürliches Gesetz, denn Algerien ist die afrikanische Fortsetzung Frankreichs, und man kann kein Land auffordern, sich selbst zu teilen, ohne daß sich diese Explosion ereignet.

Eine der markantesten, wenn auch meist verschwiegenen, aktuellen Erscheinungen ist der erneute Anschluß ines großen Teiles der muselmanischen Bevölkerung an ein französisches Algerien. Dagegen finden die Manifestationen des FLN nur eine geringe Gefolgschaft. Anderseits gibt es dieses einzigartige Phänomen der quasi einstimmigen Europäer, eines Volkes, das — vergessen Sie es nicht — Deputierte aller politischen Richtungen in die Nationalversammlung entsandt hat.“

„Aber würde dies denn nicht eine Fortsetzung des Kampfes gegen den FLN bedeuten?“

„Ich denke, daß der Krieg mit der Niederlage des FLN beendet sein wird. An dem Tage, da der FLN einsehen wird, daß er nicht in der Lage ist, einen militärischen Sieg zu erringen, wird der allgemeine Überdruß am Krieg zweifellos für eine sehr lange Zeitdauer einerseits Resignation, anderseits aber auch die Akzeptation der französischen Situation bedeuten, die die Muselmanen seit eineinhalb Jahrhunderten kennen und mehrheitlich lieben; auch wenn es noch von Zeit zu Zeit vereinzelte Attentate oder lokale Unruhen geben wird, wie sie Algerien stets gekannt hat. Am 13. Mai erklärte sich der FLN jedenfalls geschlagen. Erst als de Gaulle an die Macht kam und einige zweideutige Äußerungen machte, flammten 6eine Hoffnungen wieder auf. Während der vier Tage des Putsches vom 22. April herrschte in Algerien absolute Ruhe, und Boumendjel sagte: .Wenn sich Challe vierzehn Tage oder •drei Wochen gehalten hätte, .--wären wir verloren gewesen.' Ist der Friede wiederhergestellt, kann er — so denke ich — für zwanzig odeT dreißig Jahre gesichert werden; den ewigen Frieden kann man offenbar nicht schließen.“

Auf des Messers Schneide

„Den Unverstand und die Ignoranz der weißen, der westlichen Welt zu sehen, ist abscheulich. Wenn Algerien fällt, gehen die Sicherheit des Westens und die Suprematie der weißen Welt zu Ende. Wir befinden uns gewissermaßen auf des Messers Schneide. Die gegensätzlichsten Männer der Gegenr wart sind Salazar und de Gaulle. De Gaulle gibt preis — Salazar behauptet. Aber wir sind an einem Abschnitt der Geschichte angelangt, wo es gilt, einer gewissen Anzahl von Torheiten und Schwächen eine Absage zu erteilen und eine Mauer zu errichten gegen das, was man den .Wind der Geschichte' nennt, weil sonst unsere

Zivilisation mit unseren Kindern verschwinden wird.“

Maitre Isorni war Verteidiger im Barrikadenprozeß und im Prozeß der Generäle. Wem könnten die Gewissensnöte der Armee vertrauter sein? Das Thema lag in der Luft.

„Die Armee ist diszipliniert, aber was kann sie tun, wenn man ihr widersprüchliche Befehle erteilt? Etwa den Armeebefehl General de Gaulles vom 6. Juni 1958, worin es heißt: .Ich kenne das Werk, das sie unter den Befehlen ihrer Vorgesetzten mit einem vorbildlichen Mut und einer vorbildlichen Disziplin erfüllen, um Algerien Frankreich und französisch zu erhalten, Frankreich wird hier seine Partie gewinnen.' Man kann sich fragen, wa sich im Gewissen eines Soldaten ab' spielt, wenn die Befehle sich wider sprechen, und insbesondere, wenn dii letzten Befehle die Verfassung, da: Strafgesetzbuch und die Militärgesetz gebung verletzen. Die Politik de Selbstbestimmung steht, soweit sie dii Unabhängigkeit Algeriens zuläßt, ii Widerspruch zur Verfassung und zun Gesetz. Kein Land der Welt würdi akzeptieren, daß sich ein Teil un abhängig macht und aus dem Ganzei löst.“

„Aber das französische Volk sag gar nicht nein zu dieser Entwicklung wie das Referendum vor einem Jah bewies.“

„Das Referendum ist als Mitte präsentiert worden, den Frieden her beizuführen. Welches Volk würde eil Friedensangebot ausschlagen? Das wa übrigens die etwas schockierende um skandalöse Seite des Referendums.'

Fünfte oder Sechste Republik?

„Halten Sie eine Lösung des algeri •chen Problems im Rahmen der Fünf ten Republik für möglich, oder glaube; Sie, daß eine ganz andere Entwick lung eingeleitet werden müßte?“

„Es ist offensichtlich, daß es kein Lösung geben wh-d, solange de Gaull an der Macht bleibt. Die Frage, o' sein oder seine Nachfolger in eine Fünften oder Sechsten Republik agie ren werden, ist von Modalitäten ab hängig, die schwer vorauszusehen sine Ich halte persönlich die Verfassun der Fünften Republik für gut — ab gesehen vom Artikel 83, der de überseeischen Territorien die Möglich keit einräumte, ihre Unabhängigkei zu erlangen, womit man sich des mo raiischen Anspruches begab, Algerie dasselbe Recht auszuschlagen; ju ristisch blieb Algerien zwar eindeuti ein Departement.

Persönlich neige ich zur Vermu tung, daß es zu einer Sechsten Repu blik kommen wird, weil ein Ausschei den General de Gaulles, der sich sosehr mit der Fünften Republik identifizierte, auch das Verschwinden der Fünften Republik bedeuten würde. Außerdem wird gegenüber den Männern der Fünften Republik eine heftige Feindschaft zu verspüren sein. Eine große personelle Erneuerung kann offensichtlich auch eine Erneuerung des Regimes selbst mit sich bringen. Im Falle eines Wechsels der Verfassung würde einer Sechsten Republik wohl ein Provisorium vorausgehen. Es ist schwer zu sagen, ob dieser provisorische Zeitabschnitt absolut demokratisch sein könnte. Aber ich sehe nicht ein, warum die Sechste Republik nicht demokratisch sein sollte.“

„Es scheint aber offensichtlich, daß es nicht möglich sein wird, eine demokratische Mehrheit für eine Algerienpolitik zu gewinnen, wie Sie sie skizziert haben — oder sollte ich mich täuschen?“

„Ich glaube, daß Sie sich täuschen. Ich glaube an die Möglichkeit einet populären Sanktionierung des Problem! .Algerie francaise'. Die Partei dei Jndependants', die fünf Millioner Wähler repräsentiert, hat sich eher einmütig für das französische Algerier ausgesprochen, während sie noch voi kurzem bereit war, die algerische Unabhängigkeit zu akzeptieren. Evolutionen sind also möglich. Wenn es einer Regimewechsel geben wird und da neue Regime den Bürgerfrieden und die Ruhe bringt, die Stabilität dei Franc und der Wirtschaft behauptet dann wird es seine Mehrheit auf deir Wege einer Volksbefragung gewinnen, Neue Regimes sind sehr leicht einzuweihen, wenn sie einer Periode dei Wirren folgen, und jeder Wechsel ruft Unruhen hervor. Man akzeptien also das Regime, das den inneren Frieden und die Ruhe bringt. Im übriger haben die Parteien nicht mehr der geringsten Einfluß. Jene, die heute gegen eine Lösung im Sinne der .Algerie francaise' eingenommen zu seir scheinen, können sie morgen ohn weiteres akzeptieren, ebenso wie sie am 13. Mai gegen die Machtübernahme de Gaulles waren und sich sodann vor ihm erniedrigt haben.“

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